Beitrag von Anja Hilgert
Die Vorstellung, dass die Sprache, die die Mutter spricht, nicht nur in ihre Umgebung nach außen tönt, sondern auch nach innen, in den eigenen Körper und zu dem Kind, das sie darin trägt – ist ein gefühlvoller Nachklang des begegnungsreichen Nachmittags am 21.Februar im Johannstädter Kulturtreff anlässlich des International Mother Language Day.
Muttersprache zu pflegen, was bedeutet das? Warum ist es von Bedeutung, in der eigenen Sprache sprechen, denken und träumen zu können? Und wie gelingt Verständigung?
Das Gefühl von Heimat
Die Muttersprache bindet in die eigene familiäre, verwandtschaftliche, die regionale, kulturelle und im weitesten Sinne irdische Herkunft. Die Identität wurzelt in ihr. Sie hat schon vor dem körperlichen Eintritt in den Erdenraum das Dasein ummantelt wie eine Klangglocke. Die Sprache ist Mittlerin in unsere Herkunft. In der Sprache fühlen wir uns zuhause. Und sie nehmen wir überall hin mit, wenn wir unser Heimatland verlassen. Dann trägt wie mütterlich die Sprache im fremdklingenden Raum dieses Gefühl von Heimat.
Ein Gewimmel von bestaunenswerten Menschen füllte den Veranstaltungssaal. Manche waren in schillernder Kleidung gekommen, paillettenbesetzt, aufwändig bestickt oder farblich überleuchtend, die Frisuren gesteckt, der Scheitel gezogen, Lippen bemalt inmitten einer weniger auffälligen Menge und doch markanten Vielfalt auch derer, die in Alltagskleidung als Gäste der Veranstaltung gekommen waren.
Jedes Alter war vertreten. Dort saßen die Frauen höheren Alters, die Hände in den Schoß gelegt, wohnten mit und ohne Kopfbedeckung dem Treiben wohlwollend lächelnd bei, an den Pfeilern lehnten Männer, standen locker verteilt in den hinteren Reihen, ein paar Teenager drückten sich an der Wand entlang und auf Matten verteilt und in voluminösen Sitzsäcken versunken gruppierten sich die vielen Kinder jeglichen Alters.
Der International Mother Language Day war die Auftaktveranstaltung einer Reihe, die unter dem Titel „Platte im Wandel – Kreatives Stadtlabor“ das Johannstädter Stadtteilleben in künstlerischen Ansätzen bewegen, anregen, erlebbar machen will.
Mitmachen, ausprobieren, kennenlernen
Im Rahmen des Projektes PLATTENWECHSEL – Wir in Aktion fand er in Kooperation mit dem ESF-Projekt Kulturlotsen – Brücken zwischen den Kulturen der Zentralbibliothek im Vereinshaus des Johannstädter Kulturtreffs so zum ersten Mal statt. Der veränderten, noch ungeübten sprachlichen und kulturellen Vielfalt im Stadtteil war ein Ort geöffnet für Ausdruck und Austausch.
Bewohner*innen der Johannstadt waren Akteur*innen und Ansprechpartner*innen und boten Workshops zum Mitmachen, Ausprobieren und Kennenlernen unterschiedlichster kultureller Techniken und Fähigkeiten. Mitteilungsdrang und die Freude, sich zu zeigen, schufen eine erwartungsfrohe Stimmung. Aus jeder Richtung der Welt kam ein Puzzlestück ins vibrierende Ganze.
Ein stolzer Tanz aus Bangladesch, von Mutter und Tochter dargeboten, eroberte eingangs das Parkett. Dann ein Duo aus Mann und Frau, er aus Indien, sie aus Griechenland, kein Paar, sondern Interessenverwandte, turnten verbal durch griechische Zahlenreihen, mit denen humorvoll und bunt der Satz des Pythagoras erklärt war wie in noch keiner Schule.
Wortschatz: BH und Odol
Eine asiatisch anmutende Portugiesin wies an sich selbst darauf hin, mit ihrem Aussehen keinem Klischeebild zu entsprechen und nahm, während sie den Gesang des Fado vorstellte, allen unausgesprochenen Irritationen den Wind aus den Segeln. Damit brachte sie geschickt die Themen von Bikulturalität, Muttersprache und Mehrsprachlichkeit, Diversität und Migrationshintergrund ins Spiel, der an diesem Nachmittag hoch im Kurs stand.
Ein indonesischer Student mit „Vatermörderkragen“ hatte lustigen Sinn für solche Vokabeln und auch fürs Phänomen viktorianischer Kolonialherrenkleidung. Mit seiner Ko-Referentin, die in bewusster Lust das Indonesische vortrug, klärten sie auf, dass aus Dresden der BH und Odol fest in den indonesischen Sprachschatz aufgegangen sind. Dann knallte, schnalzte und zischte der Raum von Lauten eines südafrikanischen Dialekts – welcher es war von den zwölf oder 300?, oder wie in Indonesien 700 gelebten Sprachen, das war nicht mehr zu ermitteln.
Mitten hindurch zog der Kasperle eine lange Kette von Kindern hinter sich her und verschwand gemeinsam mit Zauberern und Oma Sonja zum Spielen im Nebenzimmer. Weit entfernt von den Straßen im Süden ihres Landes, hatte eine Inderin den Sinn der Mandalas neu entdeckt und leitete steif gewordene Hände und Hirnwindungen an, in geschickter Handhabe mit mehrfarbigen Fäden das kunstvolle Geheimnis um Stäbchen zu wickeln.
Im Anschluss an die Präsentationen und das Singen teilten sich die Teilnehmenden auf verschiedene Workshops auf und machten in kleinen Gruppen Erfahrungen z.B. mit der Chinesischen Teezeremonie, mit Kalligraphie, Henna-Tattoos oder betätigten sich ganzkörperlich beim Bollywood-Dance und einem Bellydance-Workshop. Für die Kinder gab es einen Malwettbewerb, der am Ende ausgewertet wurde.
Es wurde viel gelacht im Vielsprachengewirr. Die Erdkugel drehte nicht schnell genug, um mit dem begeisterten Tempo der Darbietungen Schritt zu halten.
Kaleidoskop der Interkulturalität
Der Ablauf von vier Stunden Festprogramm war glücklich geordnet angeschrieben, denn tatsächlich hätte man verloren gehen können in der dicht aufeinanderfolgenden Fülle tänzerischer, musikalischer, landeskundlicher und insgesamt kultureller Beiträge: Aus Bangladesch, Indien, Rumänien, Südafrika, Singapur, Arabien, Portugal, Griechenland, Indonesien, Deutschland, China und vielleicht noch weiteren unentdeckt gebliebenen Ländern wurden kunstreich, ambitioniert oder humorvoll vielverzweigte Aspekte kultureller Herkunft ergründet.
Von den Veranstalterinnen moderierend verknüpft, ergab sich ein kühnes Kaleidoskop von Interkulturalität. So ist es also, und das kann entstehen, wenn unterschiedliche Kulturen frei aufeinandertreffen können und sich gegenseitig den Raum schenken, im Sprechen, im Lauschen und Zuhören, im Genießen, Staunen und Erkennen.
Das Publikum sprang mit seiner Aufmerksamkeit mit auf die Bühne, nahm regen Anteil und erhielt schließlich die unwiderstehliche Aufforderung, mitzusingen in einem sich gerade aufbauenden Lied. Kaum ein*r widerstand. In riesengroßem, gemeinsamem Kreis, der sie alle mit einschloss, die da waren, wurden mit Ellen und Karo Lieder gesungen, die kultur- und sprach- und identitätsübergreifend einfach sehr, sehr viel Spaß machten. Danach war der Wärmepegel erheblich gestiegen, fand Auswege in glühende Wangen und leuchtende Augen. Kleine Wortwechsel entstanden hier und da, manche schüchtern, mit stärker wechselnden Blicken und einem Lächeln, manchmal wurde ein ganzes Gespräch daraus.
Emotional erreichte die Veranstaltung ihren Höhepunkt mit dem Auftritt von Sani, der mit seiner Gitarre innig verbunden ein mehrstrophiges Lied sang, mit dem Titel Ami Banglay Gaan Gay. Dieses Lied war ergreifend schön. Die Kinder wurden alle still und lauschten, die Schultern der Erwachsenen sanken tiefer und im Laufe der Strophen entspannte der ganze Saal, wurde ruhig und war hingegeben. Mit diesem Lied, das nur dargeboten und nicht näher erläutert worden war, erklärt sich ohne weitere Worte der Beweggrund eines International Mother Language Day. Auch der stolze Impetus der Tanzaufführung zum Eingang des Festes versteht sich von hier aus besser.
Bangla ist die Muttersprache der Bengalen. In schon zwanzigjähriger Tradition wird der International Mother Language Day rund um den Globus immer am 21.Februar gefeiert. Dieses Datum legte die UNESCO Konferenz 1999 in Bangladesch fest im Gedenken an die vier Studenten, die nach der Kolonialzeit für das Recht der Bengalen auf ihre Muttersprache im damaligen Ost-Pakistan protestiert und ihr Leben gelassen hatten. Heute ist jener Teil Ostpakistans der unabhängige südostasiatische Staat Bangladesch, dessen Name sich zusammensetzt aus bangla ‚bengalisch‘ und desch ‚Land‘.
Hinweis der Redaktion: Der im Rahmen des Projektes „Online-Stadtteilmagazin“ erschienene Beitrag wurde nicht von der Landeshauptstadt Dresden bzw. dem Quartiersmanagement erstellt und gibt auch nicht die Meinung der Landeshauptstadt Dresden oder des Quartiersmanagements wieder. Für den Inhalt des Beitrags ist der/die Autor*in verantwortlich.