Nachdem er den französischen Bildhauer August Rodin in seinem Atelier besucht hatte, schrieb Stefan Zweig: “Die erste Lehre war gegeben: dass die großen Männer immer die gütigsten sind. Die zweite war, dass sie fast immer in ihrem Leben die einfachsten sind.” Es scheint, dass Zweig die Lehre verinnerlicht hatte, denn er ist auch einer von diesen großen Männern geworden.
Als ich vor sechs Jahren aus Syrien nach Deutschland gekommen bin, hatte ich mir zwei Bücher mitgebracht. Eines von ihnen war die arabische Übersetzung von Stefan Zweigs Buch ‚Die Welt von Gestern‘. Hier in Deutschland habe ich zwei Exemplare des Buches auf dem Flohmarkt gekauft und auch andere Bücher. Ich liebe Stefan Zweig sehr, obwohl ich nur ‚Die Welt von Gestern‘ und ‚Drei Meister‘ von ihm gelesen habe. Aber vor allem das erste viele Male …
Krieg führt zum Krieg
Vor dem Krieg in Syrien 2011 habe ich ‘Die Welt von Gestern’ gelesen als literarisches Buch. Aber nach dem Krieg wurde das Bild geändert. Ich lese es nicht nur als literarisches Buch sondern auch als Wegweiser, um den Krieg zu verstehen und seine fürchterlichen Folgen auf Menschen zu vermeiden.
Ich habe mich oft gefragt: wie konnte man zwei Weltkriege in seinem Leben erleben? Der Freitod Zweigs und seiner Frau 1942 in Brasilien bewies, wie schwierig es diese Situation zu ertragen. Er schrieb in seinem Abschiedsbrief: “Aber nach dem sechzigsten Jahre bedürfte es besonderer Kräfte, um noch einmal völlig neu zu beginnen. Und die meinen sind durch die langen Jahre heimatlosen Wanderns erschöpft.”
Wortemacher des Krieges
Als Syrer weiß ich gut, dass mit Anfang jedes Krieges viele normale Menschen glauben, aufgrund des Leidens unter der Ungerechtigkeit und auch durch Einfluss der Medien, dass er eine Erlösung sein würde. Im Krieg verteufelt jede Seite die andere, um Hass zu befeuern.
“Es war der Krieg einer ahnungslosen Generation, und gerade die unverbrauchte Gläubigkeit der Völker an die einseitige Gerechtigkeit ihrer Sache wurde die größte Gefahr.” Aber danach würden sie sicher sein, dass es nur die Schwelle zur Hölle ist, die man manchmal ahnungslos betritt.
“Nach dem furchtbaren Aderlass auf den Schlachtfeldern begann das Fieber zu weichen. Die Menschen sahen mit kälteren, härteren Augen dem Krieg ins Gesicht als in den ersten Monaten der Begeisterung.” Es ist nie zu spät zu erkennen wer der richtigen Gegner ist, den wir bekämpfen müssen: “Das falsche Heldentum, das lieber die anderen vorausschickt in Leiden und Tod.”
Aufgeben oder Zusammenbrechen?
Jahr für Jahr scheint es, dass Krieg kein Ende hat. Durch diesem traurigen Gefühl sucht man sich, der auf keiner Seite im Krieg gestanden hat, nach einer Zuflucht. Und die einzige Lösung ist nach Ausland zu fliehen. “Ins Ausland, sagte er (Rainer Maria Rilke), wenn man nur ins Ausland könnte! Krieg ist immer Gefängnis.”
Aber im Ausland fängt an eine neue Phase des Leidens an. In der fühlt man sich schwach, wehrlos wie eine Fliege, machtlos wie eine Schnecke. Sollte man unter diesen Umstände aufgeben oder zusammenbrechen? Zweig sagte nein, und bot uns seinen goldenen Rat in den dunkelsten Zeiten: “Flüchte dich. Flüchte dich in dein innerstes Dickicht, in deine Arbeit, in das, wo du nur dein atmendes Ich bist, nicht Staatsbürger, nicht Objekt dieses infernalischen Spiels, wo einzig dein bisschenn Verstand noch vernünftig wirken kann in einer wahnsinnig gewordenen Welt.”
Jeder Schatten ist Kind des Lichts
Am Ende, in seinem tragischen Freitod, konnte Zweig nicht seine Versprechen erfüllen und seinen goldenen Rat befolgen. Aber er ließ die Tür geöffnet vor dem Leben, an dem man sich halten muss. Hoffnung immer bleibt unserer einzigen Wahl in der versinkenden Welt. “Aber jeder Schatten ist im letzten doch auch Kind des Lichts, und nur wer Helles und Dunkles, Krieg und Frieden, Aufstieg und Niedergang erfahren, nur der hat wahrhaft gelebt.”