Beitrag von Philine Schlick, 2019
Marcel Thalheim verbringt seine Tage im Keller und die Nächte im Auto. Als PC-Experte rettet er Festplatten, ab 23 Uhr Partys in Dresden und Umland vor dem Absturz. Dazwischen liegen vier bis sechs Stunden Schlaf. Silvester steht er zum Feuerwerk für 15 Minuten auf der Waldschlößchenbrücke und trinkt ein Glas alkoholfreien Sekt, bevor er wieder ins Lieferauto steigt: Marcel Thalheim ist der BierButler.
Marcel Thalheim steht blinzelnd vor der Garageneinfahrt der Bundschuhstraße 2. Mein Name sei im irgendwie bekannt vorgekommen – logisch. Schließlich war Herr Thalheim wichtiger Bestandteil unzähliger Küchenpartys in meiner damaligen WG auf der Alaunstraße in der Neustadt.
Ein ebenso essentieller wie diskreter und unscheinbarer Bestandteil: Herr Thalheim liefert zu Zeiten, in denen Spätshop-Besitzer längst die Rollos herunter gelassen haben Getränke, Snacks und unverzichtbare Dinge des alltäglichen Gebrauchs direkt an die Haustür. Für zahlreiche Haushalte in Dresden und über seine Grenzen hinaus bis Heidenau und Freital ist der BierButler eine feste Größe.
Kiosk Untertage
Wir betreten das Reich des BierButlers, eine Mischung aus Opas Partykeller und Hackerzentrale auf 1000 Quadratmetern. Lichterschlange trifft auf Magnetwand, Ledercouch auf Lagerregal. „Die Räume hier unten gehören zu drei unterschiedlichen Formierungen, die alle mich betreffen“, erklärt Thalheim. Damit meint er seinen Technikservice, das Unternehmen Bierbutler und seine Hausmeisterdienste im Gebäude Bundschuhstraße 2.
„Eine Reporterin hat mal große Augen gemacht“, kommentiert er lachend die bescheidenen Ausmaße seines Lagers. „Natürlich haben wir hier keine Konsum-Filiale Untertage.“ Marcel Thalheim sagt ‚wir‘ und meint damit sich und die etwa 10 freien Mitarbeiter im Stand-by, die an stark frequentierten Abenden einspringen. „Früher haben wir im Anschluss an die Schicht selbst noch Party gemacht“, entsinnt sich Thalheim. Mittlerweile haben seine Freunde feste Jobs und Familien und er selbst haushaltet anders mit seinen Kräften. Dreimal Thalheim-Business will gestemmt sein.
Starthilfe Sperrstunde
„Angefangen hat alles 2012 im blanken Chaos mit 80 Artikeln“, erinnert sich Thalheim. Damals betrieb er bereits seit einem Jahr seinen Technikservice. Nachts, während der PC-Reparaturen „hätte ein Bierchen nebenbei schon die Laune aufgeheitert.“ Doch weit und breit keines in Sicht in der dunklen Johannstadt nach Mitternacht. Das brachte Thalheim und einen Freund auf die Idee.
2012 war das Jahr, in dem Lieferdienste in ganz Deutschland wie Pilze aus dem Boden schossen. „In der Neustadt gab es die Lieferbar noch vor dem BierButler“, erinnert sich Thalheim. Zu dieser Zeit galt für die Spätshops die Sperrstunde ab 22 Uhr. „Das kam uns sicherlich zugute“, sagt Thalheim.
„Die Idee war, dass das richtig groß wird.“ Einem Freund kaufte er den Namen für sein zweites Unternehmen ab: BierButler. Dafür bekam der die geschäftliche Vorherrschaft in Kiel und Hamburg zugesichert – sollte das Ganze irgendwann deutschlandweit expandieren.
Von Aufbackbrötchen bis Zahnpasta
Bislang hat der BierButler auch mit den kleinen Brötchen alle Hände voll zu tun. Er beobachtete andere Getränke-Lieferdienste, die sich vornahmen, in wenigen Jahren die ganze Bundesrepublik abzudecken – und scheiterten. „Nur weil die Leute irgendwas geil finden, heißt das noch lange nicht, dass sie es kaufen“, resümiert Thalheim.
Das Angebot ist in den Jahren weit über 80 Artikel angewachsen. Der BierButler liefert alles von Tiefkühlpizza über Gleitgel, Eiscreme, Aufbackbrötchen plus Belag, Zigaretten und Knabbereien. Und seinem Namen gemäß natürlich Bier und dementsprechende Extravaganzen wie ein Bierpong-Set. Die Schwankungen des nächtlichen Marktes sind unberechenbar: Samstage mit fünf Anrufen, Dienstage mit „Telefonterror“. Kaum Nachtschlaf, knifflige Kalkulationen, wenig Freizeit. Für Thalheim ist der BierButler „eine Herzensangelegenheit, für die ich die eine oder andere Tortur auf mich genommen habe.“
Silvester, 23:59 Uhr: Das Telefon klingelt
Durch die regelmäßigen nächtlichen Heimsuchungen in Rauschzeiten entsteht schnell eine gefühlte Intimität. Einladungen werden ausgesprochen, Bierchen angeboten. Diese auszuschlagen ist für Marcel Thalheim selbstverständliche Wahrung der professionellen Distanz „Ich bin Dienstleister, kein Kumpel. Alles andere wäre geschäftsschädigend.“
Die Kundschaft besteht bei Weitem nicht nur aus den Gästen von Studentenpartys. Überraschend Besuch, vergessen, dass am nächsten Tag Feiertag ist, kein Klopapier mehr im Haus – drückende Schuhchen gibt es zwischen 23 und 5 Uhr diverse. Der BierButler ist binnen zwei Stunden zur Stelle. „Weihnachten und Silvester gibt es für mich nicht“, erzählt Thalheim. Ein kurzes Kaffeetrinken mit der Familie, dann steht er wieder auf Abruf. Zu Silvester steht er mit Freunden für 15 Minuten auf der Waldschlößchenbrücke und stößt mit alkoholfreiem Sekt an. „Es ist mir unbegreiflich, wie die Leute in diesem Moment am Telefon hängen, anstatt ihn mit ihren Lieben zu verbringen“, sagt Thalheim.
Das Feierabend-Gefühl ist rar gesät und wird von Thalheim gewürdigt. Durch seine Arbeit ist ihm der Wert der freien Zeit bewusst geworden. „Früher hatte ich andere Maßstäbe: Ein fettes Auto, ein richtiges Bonzenhaus. Das ist mir heute nichts mehr wert. Zeit und Beisammensein ist das Kostbarste, was man sich geben kann. Das Wertvollste kostet kein Geld. Davon hat man viel mehr als von Statussymbolen.“