Die 101. Oberschule Johannes Gutenberg ist “in”: international, inklusiv, integrativ. Schulleiterin Juliana Dressel-Zagatowksi sieht in ihrer Schülerschaft wegweisendes Potential und kämpft für dessen Anerkennung. Die Cockerwiese als exponierter neuer Standort für die Oberschule wäre ein “politisches Signal für Dresden”, so die Schulleiterin. Doch es könnte eine unliebsame Planänderung geben.
Der Schulhof ist leer an diesem späten Sommernachmittag. Einsam hallen die Schritte auf den als Einbahnstraßen gezeichneten Schulfluren. Nur aus dem Büro der Schulleiterin dringen noch Stimmen. Auf einer schwarzen Tafel neben der Tür stehen in geschwungener Kreide-Schrift Willkommensgrüße in verschiedenen Sprachen. “Kommen Sie rein!”, ruft Juliana Dressel-Zagatowski munter, obwohl es ein langer Tag gewesen sein muss. Gerade hat der vorherige Gesprächspartner ihr Büro verlassen.
“Ohne Kreativität geht man baden”
“Mir war es wichtig kreativ zu werden. Viele meinen, dafür müsse man malen oder zeichnen können”, sagt Juliana Dressel-Zagatowski, die als studierte Kunsterzieherin in der Tat beides kann. Ihre kreative Erfüllung hat sie allerdings als Schulleiterin gefunden.
Bevor sie in die Johannstadt kam, leitete sie für drei Jahre eine private Schule in Dresden. Angestellt wurde Juliana Dressel-Zagatowski in der 101. Oberschule als Kunst- und Russisch-Lehrerin. Dann bewarb sie sich erfolgreich als Leiterin. Rund 430 Schüler*innen aus dem ganzen Stadtgebiet besuchen die Schule. Vertreten sind über 35 Nationen.
“Jeder Schüler, der ohne Sprachkenntnisse nach Deutschland kommt, wird an eine Oberschule eingeschult”, berichtet Dressel-Zagatowski. Hier sollen die nötigen Sprachkenntnisse vermittelt werden. Sprachanfänger*innen treffen auf Muttersprachler*innen – und alle müssen mit dem vorgegebenen Lehrplan mithalten: “An dieser Schule muss man kreativ sein, sonst geht man baden”, fasst Leiterin zusammen.
Adé Cockerwiese?
Juliana Dressel-Zagatowksi und ihre Kolleg*innen sehen die jungen Menschen an ihrer Schule nicht als Sorgenkinder, sondern als Persönlichkeiten mit einem Anspruch auf Entwicklung und Verwirklichung. “Dass unsere Schule zu 65 bis 75 Prozent Migrant*innen besuchen, ist eine Riesenchance. Wir sind ein großes lernendes System”, sagt Dressel-Zagatowski über ihre Schule, die sich an dem neuen Projekt der Kinder- und Jugendstiftung “Vielfalt entfalten – Gemeinsam für starke Schulen” beteiligt.
Eine Schule mit visionären Ansätzen – dazu würde der exponierte Standort an der Blüherstraße gut passen. Die Johannstadt wird ein Gymnasium bekommen. Dafür, so beschloss der Stadtrat im Juli 2019, soll die 101. Oberschule Johannes Gutenberg an der Pfotenhauerstraße Platz machen und an die Bürgerstraße ziehen.
“Der Standort Cockerwiese hätte Symbolcharakter für Dresden. Es wäre ein politisches Signal”, ist die Schulleiterin überzeugt.
Neue Variante stößt auf wenig Begeisterung
Nun bestätigte das Schulverwaltungsamt neue Pläne: “Der bisher geplante Doppelstandort Cockerwiese ist kompromissbehaftet”, heißt es. Eine neue Variante sieht den Neubau der Oberschule auf dem Gelände des Bertolt-Brecht-Gymnasiums vor, welches ebenfalls einen Neubau erhalten wird. Die “städtebauliche Einordnung” sei möglich und auf diese Weise könne der ebenfalls neu geplanten Grundschule an der Cockerwiese mehr Platz eingeräumt werden.
Diese Idee wurde den beiden Schulen von der Stadt noch nicht offiziell mitgeteilt – sie stößt auf wenig Begeisterung. “Wir sind keine Verschiebemasse”, kommentiert Dressel-Zagatowski. “Wir wollen Gegenstand einer solchen Entscheidung sein, kein Beiwerk.”
Marcello Meschke, Schulleiter des BB-Gymnasiums, hätte ein zentrales, exponiertes Gebäude für die 101. Oberschule ebenfalls als positiv angesehen. Zudem fürchtet er, dass es für zwei Schulen auf dem Gelände Lortzingstraße 1 zu eng wird: “Wir sind Klimaschule und haben dementsprechend viele Projekte auf dem Außengelände”, sagt er. Durch ein zusätzliches Schulgebäude und weitere Sportanlagen sehe er diese gefährdet.
Reibungen sieht er zudem in den unterschiedlichen Konzepten – vom Pausenplan bis zur Nachmittagsgestaltung, die dann abgestimmt werden müssten. Hinzu komme das Problem des Transports: “Die Busse und Bahnen zu unserer Schule sind jetzt schon mit 1000 Schülern überfüllt”, äußert er seine Bedenken.
Eine abschließende Entscheidung, welche Option weiter verfolgt wird, werde durch den Stadtrat getroffen, so das Schulverwaltungsamt.
Über 430 Bildungsbiografien
Die Schüler*innen der 101. Oberschule Johannes Gutenberg kommen aus ganz Europa von Schulen, in denen andere Standards gelten. Sie kommen aus Kriegsländern wie Syrien, Libanon und Jemen und müssen Anschluss finden, nachdem sie jahrelang die Schule nicht besuchen konnten. Sie kommen aus Akademiker- gleichwohl wie aus Arbeiter- und Bauernfamilien. Sie kommen nicht nur mit ihren Rucksäcken, sondern mit ihren Päckchen, mit ihren Hoffnungen und Träumen. Sie bleiben nur für Monate – oder gründen Familien hier.
“Jeder hat seine ganz individuelle Bildungsbiografie”, sagt Dressel-Zagatowksi. “Wir hatten mal einen Jungen an der Schule, der kam aus Lettland. In seiner Schule dort wird auf Englisch unterrichtet. Die Digitalisierung ist viel weiter voran geschritten. Er hat uns wie ein Relikt wahrgenommen und zwei Jahre nicht mit uns gesprochen. Irgendwann kam das Initial.”
Die Schule setze alles daran, dem Spektrum der Schüler*innen, ihren individuellen Anforderungen und Bedürfnissen gerecht zu werden. Das bedürfe in erster Linie viel Zeit. “Das geht nicht zack, zack, zack”, sagt die Schulleiterin, die sich um Fördermittel und – programme bemüht, um Personal aufzustocken. “Wir betreten täglich Neuland.”
Nicht vor den Karren spannen lassen
Die Schulleiterin sagt “wir”, wenn sie über die Schule spricht. Denn hier sitzen sprichwörtlich alle in einem Boot: Lehrende und Schüler*innen sind in Prozessen miteinander verbunden. “Kein Tag ist wie der andere”, sagt Dressel-Zagatowski. “Nichts passt hier in vorgefertigte Kategorien.”
Die Schere sei groß, der Druck auf die Kinder und Jugendlichen teilweise hoch: Zu kulturellen Unterschieden und individuellen Verfassungen kommen die Leistungsanforderungen – Spannungen bleiben da nicht aus.
Empört hat die Schulleiterin kürzlich die kleine parlamentarische Anfrage der AfD zu Gewalt an Schulen aufgenommen. Schnell hätte ein Zeitungsartikel die 101. Oberschule als negatives Beispiel zitiert. “Der Artikel war unreflektiert und diskriminierend”, sagt Dressel-Zagatowski.
Vor den eindeutig gefärbten Karren will sie ihre Schule nicht spannen lassen. Dass für die Anfrage der AfD Einblick in sensible Daten gegeben wird, macht die Schulleiterin fassungslos. Besondere Vorfälle an ihrer Schule in einem Meldebogen zu erfassen, ist für sie im Sinne der Transparenz und zum Wohl ihrer Schützlinge selbstverständlich. “Aber wenn ich weiß, dass die AfD diese Daten benutzt, verwende ich zukünftig ein anderes Sortiersystem.”
Konflikte haben Ursachen: Sozialer Druck, Diskriminierung, traumatische Erfahrungen, Angst, Verzweiflung, Hilflosigkeit. “An jeder Schule gibt es Gewalt”, sagt Dressel-Zagatowski. “Nicht alle gehen offen damit um.”
Das schönste Erlebnis
Auf Juliana Dressel-Zagatowskis Schreibtisch blüht ein draller Strauß aus den vietnamesischen Gärten.”Mut, meine Liebe, Mut” sagt eine Karte vor der meerblauen Wand des Büros. Was war heute ihr schönstes Erlebnis, Frau Dressel-Zagatowski? “Ich hatte heute zwei, drei schöne Gemeinschaftskunde-Prüfungen, wo Schüler, die nach Deutschland zugezogen sind, verstanden hatten, was Demokratie ist. Das war … toll!”
Weiterführende Informationen
- 101. Oberschule Johannes Gutenberg
- Pfotenhauerstraße 44, 01037 Dresden