eingestellt am 23.04.2024 von Gerd Gottwald (ZEILE), Headerbild: Erstes Kennenlern-Treffen im Garten des Johannstädter Kulturtreff
Foto: Gerd Gottwald
Seit Mitte Januar beleben sich die Container-Unterkünfte (im Amtsdeutsch: „Mobile Raumeinheiten (MRE)“) am Sachsenplatz mit Asylbewerbern aus verschiedenen Ländern, vorrangig Afghanistan und Syrien. Bisher sind 60 junge Männer hier auf Zeit eingezogen. Damit ist die Unterbringung, die über 72 Plätze verfügt, nahezu ausgelastet. Da liegt es nahe, diese Menschen im Stadtteil zu begrüßen und zu einem gegenseitigen Kennenlernen einzuladen. Ein Netzwerk aus koordinierenden Vereinen traf sich auf Initiative von Clemens Hirschwald, Sozialamt der Stadt Dresden anlässlich der Veranstaltung im Johannstädter Kulturtreff am Nachmittag des 14. April bereits zum dritten Mal.
Gartentreffen mit Chorgesang
Vorstellung von Akteuren
Im weiteren Verlauf stellten sich die verschiedenen Akteure der Stadt und des Stadtteils Johannstadt vor und luden die Neuankömmlinge ein, sich ein Bild von der Vielfalt des gesellschaftlichen Leben in der Stadt zu machen. Die etwa 30 jungen Männer, die der Einladung gefolgt waren, nahmen die Beiträge interessiert entgegen. Insgesamt war eine positiv aufgeschlossene Stimmung unter den vorwiegend Anfang bis Mitte Zwanzigjährigen, die gern die Gelegenheit wahrnehmen, sich weiter zu orientieren und nächste Schritte zu unternehmen, um selbständig zu leben.
Interessant dabei war die Übertragung der einzelnen Redebeiträge in gleich drei Sprachen: arabisch, farsi und hindi. Neben dem Singasylum Chor (im Bild rechts) stellten folgende Akteure ihr jeweiliges Tätigkeitsfeld vor und luden zum Kennenlernen ein:
Frauen des Café Halva im JoKT hatten ein umfangreiches Büfett an kulinarischen Köstlichkeiten aus der afghanischen und der ukrainischen Küche vorbereitet, welches allseits gerne angenommen wurde. Der Übergang zum Essen bot zugleich die niedrigschwellige Möglichkeit, in Kontakt zu gehen und sich kleinen gemischten Gesprächsgruppen an den Gartentischen anzuschließen.
Im Anschluss wurde die Gelegenheit zu Austausch ausgiebig genutzt. Auf vielfältige Weise wurden Sprachbarrieren überwunden und Kontakte hergestellt.
Das Wichtigste ist eine Wohnung zu finden
Vor allem stellte sich heraus: Das Wichtigste, was die jungen Männer suchen, um ihr Leben selbstbestimmt zu führen, ist die Möglichkeit zu wohnen. Es werden dringend Wohnungen gesucht. Jegliche vermittelnde Hilfe wird dankbar angenommen.
Menschen, die Zimmer oder eine Wohnung vermitteln können, melden sich bitte gerne beim Verein Willkommen in Johannstadt (WIJ) unter :
Offene Sprechstunde, Hertelstraße 24 : Mo 16 – 18 Uhr, Mi 12 – 14 Uhr
In eigener Sache: Dieser Artikel wurde verfasst/redaktionell bearbeitet durch die ehrenamtliche Stadtteilredaktion von johannstadt.de. Sie haben auch Lust über die Johannstadt zu schreiben, Beiträge zu lektorieren oder die Redaktion organisatorisch zu unterstützen? Dann melden Sie sich unter redaktion@johannstadt.de. Unterstützen können Sie unsere Arbeit auch mit Ihrer Spende! IBAN: DE65 4306 0967 1215 9641 00, GLS-Bank Bochum oder über johannstadt.de.
eingestellt am 28.08.2023 von Andrea Schubert (Stadtteilverein), Headerbild: Stühleinstallation, Foto: Torsten Görg
Am Freitag, den 01.09. findet die Abschlussveranstaltung des vom Bund geförderten Programms „UTOPOLIS – Soziokultur im Quartier“ am Johannstädter Kulturtreff statt: Der PLATTENWECHSEL zieht mit Utopie-Karawane durch den Stadtteil und präsentiert abschließend viele seiner unwiederbringlichen Momente in einer künstlerisch kuratierten Ausstellung.متابعة قراءة Utopolis-Abschluss: Utopie-Karawane zieht durch die Johannstadt
eingestellt am 15.06.2021 von Anja Hilgert (ZEILE), Headerbild: Die neue Leiterin des Plattenchors im Portrait. Foto: Anja Hilgert
Bis in die Herbstzeit reicht der Klang zurück, den der stadtteileigene Plattenchor ins Viertel eingebracht hatte. Seitdem war Gesang aus der Öffentlichkeit verbannt… Doch, wie es so schön heisst…dem Glücklichen klingt immer sein Lied…das Singen wird in der Johannstadt jetzt wieder rege und beginnt mit Auftakt: Diese Woche startet der Plattenchor!
Der Johannstädter Plattenchor
Gerade bei einem bunt gemischten Chor ist es der erzeugte Klangraum, der alle miteinander trägt und zum gemeinsamen Singen motiviert. Da nun wieder erlaubt ist, was lange genug unmöglich erschien, rufen die beiden Leiterinnen des Plattenchors, Marieluise Herrmann und Karoline Friedländer den beherzten Wiederstart des gemeinsamen Singens in der Johannstadt aus:
Ab Dienstag 14.06. heisst es wieder regelmäßig: Dienstags, von 18-20 h singt der Plattenchor im Johannstädter Stadtteil.
Und : Vielleicht brauchen wir manchmal eine zweite Chance, weil die erste zu früh kam…
Jetzt ist wieder Gelegenheit, neu anzufangen und dazu zu kommen.
Der Plattenchor ist offen für alle und freut sich über neue Mitsingende. Große und kleine, junge und alte Johannstädter*innen sind alle herzlich eingeladen zum gemeinsamen Singen: Jede*r kann dabei sein, zuhören, summen, mitsingen, ohne Vorkenntnisse, ohne Noten teilnehmen und gemeinsam mit anderen Menschen den Stadtteil singend verschönern. Denn über das Singen, das alle miteinander unabhängig von Alter, Beruf oder Herkunft teilen, entsteht unter dem freien Himmel der Johannstadt Gemeinschaft und ein Tun, das nährt und stärkt.
Treffpunkt:Jeden Dienstag, 18 Uhr vor dem Johannstädter Kulturtreff zu einem Warm up, anschließend geht es zum Singen an verschiedene Orte im Stadtteil.
Eine neue Chorleiterin will unter die Leute
Sie hatte gerade ihre Nachfolge als neue Chorleiterin in der Johannstadt angetreten, da musste im Herbst der ganze Chor auseinandergehen und dem verordneten Gesangs-Verbot Folge leisten. Eine Weile noch hatten sich die Chormitglieder weiter online getroffen und Singerfahrungen im digitalen Gruppenraum gemacht, doch über die lange Dauer der Kontaktbeschränkungen war es beschwerlich, die Verbindung am Schwingen zu halten.
Der Chor ging in die Stille und das ganze Projekt ruhte unter der zwangsläufigen Pausetaste. „Gerade für einen Chor im Aufbau ist die stete Regelmäßigkeit und Kontinuität der Probenarbeit wichtig“, sagt Marieluise Herrmann. Sie musste über Winter dennoch ihre Hände sinken lassen. Jetzt freut sie sich aufs sommerliche Wiedererwachen.
Unabhängig vom kollegialen Kontakt zur damaligen Chorleiterin Ellen Muriel, hatte sie über Soziale Medien bereits vom Plattenchor gehört und begeisterte sich für das Lied-Video, das von einer Probe im Treppenhaus des Kulturtreff entstanden war.
Sie übernahm ohne Zögern das Angebot, gemeinsam mit Karoline Friedländer den jungen Chor in der Johannstadt weiterzuführen. Marieluise Herrmann bringt als Chorleiterin ihre Erfahrung mit aus dem parallel laufenden Chor des Zentralwerk e.V. in Dresden Pieschen. Auch eine zukünftige Vernetzung der Projekte findet sie gut vorstellbar.
Neben ihrem Beruf als Musiktherapeutin am Uni-Klinikum ist Marieluise Herrmann selbst auch als Sängerin aktiv, einerseits in dem Vokalensemble “Treta Mominka” mit osteuropäischer Musik, andererseits in der Dresdner Band ‚Affen’, die internationale Lieder und Tanzmusik interpretieren. Marieluise spielt Klavier, Akkordeon und Hackbrett und vor allem singt sie leidenschaftlich gern.
Gedanken draussen lassen
Bei Projekten wie dem Plattenchor werden Gedanken einfach weit draussen gelassen, die konditioniert darauf sind zu glauben, Musik und Gesang machten nur Leute, die das schon können. „Weit gefehlt“, sagt die studierte Ethnomusikologin, die eine Schwäche für traditionelles Liedgut aus der ganzen Welt und sich überall unterwegs Lieder beibringen lassen hat, „Es geht natürlicher Weise darum, gemeinsam zu singen, auch die Lieder zu singen, die die Menschen selbst mitbringen.“
Aus ihrem therapeutischen Tätigkeitsfeld weiss sie: „Die Stimme steht für die Persönlichkeit. Vieles liegt darüber, das mit Bewertungen zu tun hat, was bei den Meisten Hemmungen schafft. Da ist es etwas sehr Sensibles, wirklich zu singen. Ich möchte die Leute zuallererst einladen zum Zuhören. Zuhören spielt eine ganz große Rolle im Singen, deshalb singen wir zum Einstieg einen Ton, zwei Töne – auch für die, die das sicher können, lohnt es sich, denn sie tragen die Gruppe und trainieren dabei ihre Stimme. Die Stimme wird stärker, kräftiger, selbstbewusster, je mehr man sich in ihr übt. In der Gruppe wird die Schwelle leichter genommen.“
Die verbindende Wirkung, den Ton richtig zu treffen
Marieluise Herrmann sitzt mit aufgerichtetem Rücken, der Brustkorb frei und ihr zuzuhören wird melodischer, bewegter, je mehr sie ins Thema kommt: Ihr Thema: „Es hat viel mit dem bewussten Atmen zu tun beim Singen, dass man dabei so sehr zu sich kommt. Im Atmen liegt etwas fundamental Körperliches, das zentriert. Ich habe selbst auch Gesangsunterricht gegeben und habe die Erfahrung gemacht, dass jede*r in den Zusammenklang findet und es schafft, für sich den „richtigen Ton“ zu treffen. Wenn man sich Zeit lässt und das ganz behutsam macht, da weiss ich einfach, dass es funktioniert.“
Deshalb ist der Plattenchor als Angebot zunächst niedrigschwellig. Das Weitere, hin zu den lebhaften Liedern entwickelt sich im choreigenen Prozess.
An jedem Dienstagabend ist den Teilnehmenden ein neu gelerntes Lied gewiss, mit dem sie nach Hause und durch die Woche gehen können: „Ich mache mir keine Sorgen, dass Leute zum Singen kommen werden, aber dass es wirklich die lokal vor Ort lebenden Menschen der Johannstadt in ihrer ganzen Unterschiedlichkeit sind, das würde ich mir wirklich sehr wünschen.
Beim Singen macht man vor allem eine gemeinsame Erfahrung, man erarbeitet ein Lied miteinander. Das steht verbindend in der Mitte. Man kommt nicht, um sich erst kennenzulernen, sondern das passiert ganz von allein. Es wirkt verbindend, diese kleine Erfahrung zu machen, wie leicht es ist, im Singen dazuzugehören. Das allein ist ergreifend, die Erfahrung, sich als Teil in einer Gruppe, in einem Takt zu erfahren.“
Im Flow ohne Noten
Das Gefühl des Einklangs kann man erreichen, davon ist die engagierte Chorleiterin überzeugt, ohne dass man sich kennt oder sozial aus dem gleichen Milieu kommt: „Man braucht nicht einmal die gleiche Sprache zu sprechen. Das Synchronwerden, der Rhythmus entsteht – es dauert eine Weile, dann findet man sich hinein. Einerseits führt es einen zu sich selbst hin und andererseits kann man sich der Gruppe hingeben.“
Der Plattenchor singt nicht „die klassischen Bass-Tenor-Alt-Sopran-Stücke“, sondern vor allem Kanons eignen sich gut: Alle haben die gleiche Stimme, die sich wiederholt und diese gleiche Stimme singt man versetzt. Daraus ergibt sich ein flow und dann ein Ganzes, es entsteht Mehr…“
Wichtig: Es kommen keine Noten dazu. Auch diese Berührungsängste, zu glauben, etwas ablesen und genau entsprechen zu müssen, sind ausgeschaltet: „Wir singen im Kreis immer wieder vor und nach, antworten wechselseitig aufeinander. Es ist wichtig, dass man nicht zu viel ins Denken kommt. Dann kommt der Punkt von alleine, wo man sich dem Lied in der Gruppe einfach hingibt – und singt.“
„Ich habe meine Erfahrungen, mein Wissen und meine Ausbildung“, sagt die Sängerin, „aber ich freue mich immer, wenn ich noch etwas lernen kann: Es wäre schön, wenn Menschen etwas mitbringen aus ihrem Leben oder ihrer Vergangenheit, ihrer Kindheit oder Herkunft, etwas, das sie bewegt, was wir im Chor miteinander singend bewegen können.“
Wer möchte, möge gerne einen Liederwunsch zur wöchentlichen Probe mitbringen: „Der Anfang muss gemacht werden und den machen wir jetzt wieder.“
Weitere Informationen
Die Höchstzahl an Teilnehmenden beträgt derzeit 15 Personen. Damit die Hygieneregeln zum Infektionsschutz eingehalten werden können, ist derzeit eine Anmeldung erforderlich:
telefonisch 0351-447 28 23 oder kontakt@johannstaedterkulturtreff.de
eingestellt am 01.09.2020 von Anja Hilgert (ZEILE), Headerbild: Der Plattenchor hatte den Sommer über seinen Proberaum im Stadtviertel unter freiem Himmel
Aus Gehwegunterführungen, Stadtgärten und an verschiedenen Orten zwischen den hochgeschossigen Häusern war in den vergangenen Wochen in der Johannstadt unvorhersehbar und doch regelmäßig wiederkehrend ein gewisser vielstimmiger Gesang zu hören. Anwohner*innen öffneten Dachfenster, traten irritiert auf ihre Balkone und Passanten hielten erstaunt inne, wunderten sich über den unerwarteten Klang. Auflösung des Rätsels: Über die Zeit des Sommers hat der Plattenchor im öffentlichen Außenraum geprobt und dabei seine unverkennbare Klangspur in die Johannstadt getragen.
Der Plattenchor
Auf einmal waren sie da: Zwei junge Frauen, die eine Menge Sympathie und Energie verströmten und mit ihrem Auftreten Menschen wie zum Mitsingen entführten. Meine Wangen glühen immer nach diesem Singen und mir ist wie ausgewechselt, durchwärmt und beschwingt zu Mute, wenn ich aus dem Chor nach Hause gehe. Etwas Verwandelndes passiert da. Ellen Muriel und Karoline Friedländer sind die Chorleiterinnen, die es verstehen, Menschen zu ihren Stimmen zu bringen, um sie im Herz zu erreichen.
Singen ohne Noten
Das Tolle am Singen ist, daß es als universelle Sprache funktioniert. Man braucht keinerlei Sprachkenntnisse. Beim Johannstädter Plattenchor auch keine Notenkenntnis, denn alles wird nach Gehör und mit der Präsenz und dem Gedächtnis des Körpers erlernt.
Ein Aus- und Abschütteln des Tagesgeschehens aus Beinen, Armen und Gelenken eröffnet die wöchentliche Probe. Die Gesichtsmuskulatur wird flattern gelassen, die Kiefer fallen und es wird ausgiebig in allen Tonlagen gesummt, bis wie von innen heraus der Körper musikalisch wird. Jede*r verliert für einen Augenblick die Fassung und lässt sich gehen im angeleiteten Gähnen und Seufzen. Sich ein Stück weit hinter sich selbst zurückzulassen und sich nicht gar so ernst zu nehmen, ist Ziel der Aufwärmübungen, die auf ganzer körperlicher Ebene Lockerung, Entspannung und damit Aufnahmefähigkeit herbeiführen.
Kreisbewegung
Eine eröffnende Vorstellungsrunde macht mit vielen schön klingenden Namen bekannt: Irina, Fatima, André, Sanzid, Gabi, Tobi – die Menschen kommen aus entgegengesetzten Teilen der Erde, sprechen unterschiedliche Sprachen, manche wenig oder gar kein Deutsch, einige Englisch, andere nicht und alle lernen miteinander die Sprachen von Liedern, deren Worte keine*r wirklich versteht. Auf Swahili, in Pidgin oder Roma – gesungen werden Lieder der Weltmusik aus slawischer, keltischer, ozeanischer und anderer weltweiter Tradition.
Die Melodien erzählen meist Alltägliches aus den kulturellen Kontexten, aus denen sie stammen: z.B. „Što j pa moru… Am Meer…blaues Meer, da waren schwimmende weiße Schwäne…“ Der Sinn erschließt sich kollektiv auf mitfühlender, mitschwingender Ebene. Gemeinsam werden die Liedtexte nachgesprochen. Stück für Stück. Vorsichtig, sich der Laute vergewissernd und bemüht um die gemeinsame exakte Aussprache. Man tastet sich voran, nähert sich Gehalt und Klang allmählich an. Bis schließlich alle eingeweiht sind, das Gemeinsame entsteht.
Call and reponse
Im Mitsingen dieser Art von Liedern, in der Art und Weise, sie zu singen, wie Ellen Muriel und Karo Friedländer das in die Johannstadt einbringen, geschieht etwas, das wirkt wie einen Blinden zu führen, im selben Vertrauen. Und da ist etwas, was in neue Möglichkeiten versetzt.
Ich hätte nicht gedacht, in der Lage zu sein, einen Ton zu halten, wenn um mich herum ganz andere Höhen und Tiefen in Bewegung sind. „Ich kann nicht singen“, war auch meine festgefügte Überzeugung, nachdem schulischer Singunterricht über mich hinweg gegangen und meine Stimme eher im Hals stecken geblieben war.
Im Nachahmen entsteht Sicherheit. Call and response, eine*r singt vor, die anderen antworten, ist eine tradierte Art, eine Gruppe in die Musik mitzunehmen. Ein Lied entsteht in Teilen, wird stückweise angeleitet, wiederholend zusammengesetzt, bis es schließlich ganz da ist. Die Hauptmelodie nimmt alle gemeinsam ins Klangbild auf. Diese Arbeit am Zusammenkommen ist ein Gemeinschaftsprozess, den Ellen und Karo im Chor pflegen. Immer geht es vom Kreis aus und wieder in den Kreis zurück.
Offen für alle
„Der Plattenchor ist offen für alle, jede*r kann mitsingen“, sagt Meike Weid von UTOPOLIS, dem Projektrahmen für soziokulturelle Initiativen, durch den der Chor ins Viertel gelangt ist. Es ist ein offenes Angebot zum Mitmachen, bietet aber mehr: Nämlich mit der ersten Überwindung („Ich kann nicht singen…“) einen wirklichen Schwellenschritt zu erfahren: Wenn zum Einstieg spielerische Lockerungsübungen den Alltag und seine Prägungen zurückstellen, tritt wie natürlich das Miteinanderdasein in den Vordergrund.
Im Kreis stehen alle auf derselben Höhe, sind wir untereinander verbunden. Wahrscheinlich geht es beim Singen sowieso mehr ums Einanderhören. Wenn die eigene, aus dem Körper entlassene Stimme wie eine Auflagefläche den Klangteppich aller Stimmen berührt und sich mit ihnen frei setzt, ist das ein unglaubliches Erlebnis.
Ein Chor für alle Lagen
Um das ins Erleben zu heben, gibt es ein Zeichen: Wenn Karo den Zeigefinger in der Luft dreht, darf einzeln der Kreis verlassen und durch die Mitte gegangen werden, mit der Einladung, im Klang aller zu baden und zu genießen.
Gesungen wird mehrstimmig, in allen vier Lagen. Der Chor teilt sich je nach Selbsteinschätzung in die zwei, manchmal drei oder vier Gruppen. Auf die Stimmlagen ist niemand für immer festgelegt. Jedes Lied ist eine neue Einladung, sich zu versuchen. Es kann sein, an manchen Tagen passt es einem besser, Tenor zu singen oder die Bassstimme oder Alt und Sopran. Auf Professionalität kommt es nicht an. Stattdessen auf Freude und Spaß am gemeinsamen Singen. Da kann es mal gut passen, lieber in der Tiefe den Ton behäbig und breit durchzutragen als in den Höhen zu tanzen in akrobatischen Sprüngen. Eine schöne Einladung im mehrstimmigen Singen ist es, sich mit der eigenen Stimme durch den Kreis zu bewegen und so umeinander laufend immer wieder anderen Stimmen zu begegnen.
Mit Gesang aus dem Schlaf geholt
Bereits im Dezember 2019, im Garten des Johannstädter Kulturtreff e.V. hatte das singende, schwingende neue Projekt des Plattenchors seine Geburtsstunde. Mit zahlreichen spontan versammelten großen und kleinen Besucher*innen-Stimmen war der Auftakt im Hinterhof der großen WGJ-Wohnhofsiedlung klangstark. Fenster der umliegenden Wohnungen öffneten sich, Anwohner*innen genossen ein Freiluftkonzert von ihren Fenstern und Balkonen aus.
Eine Mitsängerin der ersten Stunde ist Ida, ein 10jähriges Mädchen, das schon zu Bett gebracht im Zimmer lag, als der Chor zum zweiten Mal im selben Hinterhof sang. Das Singen klang zu ihr hinein und war wie ein Weckruf, der sie wieder aufstehen ließ. Sie ging zu ihren Eltern und verlangte, wissen zu dürfen, wer da singe. Ihr Drang war so energisch, dass ihr Vater sie zum Lauschen nach unten in den Hof brachte. Beim nächsten Mal wurde Ida dann pünktlich zur Probe gebracht, diesmal zum Mitsingen. Und auch zum ersten kleinen Konzert des Chors war Ida als Sängerin dabei.
Viruserkrankung eines Chors
Wenn man den Frühling mit der Phase der Kindheit und des Heranwachsens vergleichen kann, dann hatte der Plattenchor eine erschwerte Kindheit. Das Virus brach aus.
Menschen verbrachten Wochen und Monate im lockdown in ihren Wohnungen. Atemluft durfte nicht mehr frei verströmt werden, nicht öffentlich und schon gar nicht zum Singen. Der Anfang des Chors stand nicht gerade auf leichten Füßen.
Doch Ellen Muriel und Karoline Friedländer wären nicht die beiden außergewöhnlichen Chorleiterinnen, die sie sind, wenn sie nicht auch durch diese harten Startbedingungen hindurch das Projekt Plattenchor mit Phantasie und Vertrauen geleitet und alternative Wege eingeschlagen hätten: Sie retteten das junge Johannstädter Chorbaby, indem sie die einzelnen Mitsingenden über Wochen stetig dienstags einluden zu online-Chorproben: Gesungen wurden in die Zeit passende, zuversichtlich stimmende kurze, einfach erlernbare Songs, zu denen man sich dazuschalten konnte.
Row fisherman row
Keep on rowing your boat
Row fisherman row
We’ve got to keep on higher ground
Die eingespielte Methode von Vorsingen-Nachsingen bewährte sich auch im virtuellen Raum. Es war eine neue Erfahrung, die eigene Stimme allein und voll hörbar im Raum zu vernehmen, ohne die anderen mitzuhören. Humor und Experimentiercharakter retteten auch diese Situation. Mit Kopfhörern am Fenster, tanzend in der Küche oder allein im Schrank oder unter der Dusche zu singen, waren kreative Erweiterungen für den Plattenraum. Und mit Ellen als Schaltstelle alle dieser Leitungen kam sogar das kleine bisschen Chorgefühl auf.
Abstandschor ohne Grenzen
Mit Einführung der offiziellen Abstands- und Hygieneregeln wurde das Singen in der Gruppe wieder möglich: Der Plattenchor erfand für sich das Markenzeichen bunter Hoolahoop-Reifen. Die farbigen Reifen markierten für jede*n einen geschützten Radius und verliehen, auf ihre Art in pink, blau, gelb und mit Glitzer im Kreis ausgelegt, einen sicheren Rahmen. So fand Marie-Louise zum Chor, die eigentlich HoolaHoop tanzen wollte, aber dann trotzdem zum Singen mitkam.
Der Chor nutzte die Gunst der Stunde, sich an verschiedenen Orten draußen im Viertel zu treffen und seine Lieder mit den Anwohner*innen zu teilen. Der Stadtteil wurde zum Proberaum. Dem Singen waren keine Grenzen gesetzt: Wenn schon die Menschen nicht zu Konzerten und Veranstaltungen durften, so konnte die Musik nun zu den Leuten getragen werden. In der Johannstadt gab es den ganzen Sommer über auf diese Weise Gesangseinlagen frei zugänglich für alle im Viertel.
Singen macht schön
Spielerisch Grenzen aufzulösen ist eine Kunst dieses Chors. Mehr und mehr wird er zum Plattenchor, der das Singen einspeist in die Fluchten der Häuser, in die Freiflächen der Parkplätze und der Grünanlagen. Wo singt es sich am besten? Schwer zu sagen. Das Vordach der Kaufhalle hat vorm Regen geschützt und überzeugte mit erstaunlich guter Akkustik. Mal überraschte ein Durchgangsweg mit klaren Tönen und selbst unter Bäumen kann es klingen wie im Raum einer Kathedrale. Beflügelnd, wenn alle Töne miteinander an den Raum abgegeben sind und der Klang sich über dem Chor modelliert.
Der Plattenchor ist ein künstlerischer Impuls, der in die Johannstadt hineinreicht, um Menschen in Verbindung zu bringen, mit sich, untereinander und rückverbunden mit einer Schönheit, die sie nach Hause und weiter tragen.
Alles in der Welt, in der wir leben, ist Schwingung. Beim Sprechen, Weinen, Heulen oder Jubeln und ganz besonders beim Singen ist die menschliche Stimme die Membran, durch die es aus dem eigenen Inneren ins Außen, in die Welt geht.
Die Stimme von Neugeborenen ist Begrüßung und Empörung über die Schwelle, die mit der Geburt überwunden worden ist. Wir entladen unser Dasein über die Stimme. Der erste Laut und Schrei gibt das Zeichen, lebendig und am Leben zu sein. Singen ist wie eine fortwährende Bestätigung dieses Grundgefühls: Lebendig und bejahend mitten im Leben zu sein. Und im Chor ist das eine gemeinschaftliche Erfahrung. Singen antwortet auf die Welt als Klang.
Weiterwachsen
Nun, wo es geregelt wieder wöchentlich Proben gibt und sich allmählich ein fester beweglicher Stamm im Chor gebildet hat, der zu wachsen beginnt, ereilt den Chor quasi in seiner Pubertät die nächste Schwelle.
Ellen wird nach England zurückgehen. Ein geplanter Auftritt des Plattenchors zum Parking Day am 18. September auf der Hertelstraße wird somit auch ein Abschiedskonzert. Und ein nächster Schritt: Karo wird mit weiterer Unterstützung den Chor weiterleiten und der Chor freut sich über weitere Sänger*innen und Klangbegeisterte!
Zum Ende, da seien sich alle gewiss, ist man durchströmt von Wärme und einer besonderen, ausgewogenen Kraft im Körper, in der alles mitströmt, was vorher nicht im Fluss war. Irgendwie geweitet und offener, gelöster, glücklicher geworden und gewachsen, innerlich, setzen sich Pfade und Wege des Lebens nach dem Singen lebhafter fort.
Danke für die wunderbare Chorzeit.
Der Plattenchor – ein Projekt von UTOPOLIS
Der Chor ist kostenfrei. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich.
Der Chor ist offen für alle zum Mitsingen. Jede*r von 0-99 Jahren ist herzlich willkommen!
Treffpunkt: Dienstags 19h vor dem Johannstädter Kulturtreff e.V. , Elisenstraße 35
Hygieneregeln zum Infektionsschutz werden eingehalten.