Interkulturelle Tage 2020: Alle Veranstaltungen in und um Johannstadt

eingestellt am 24.09.2020 von Philine Schlick, Headerbild: Plakat der 29. Interkulturellen Tage. Foto: PR

Vom 20. September bis 11. Oktober finden in Dresden unter dem Motto “Mein Name ist Mensch” die Interkulturellen Tage statt. Veranstaltungen von Workshop bis Film, von Gesprächsrunde bis Ballspiel machen darauf aufmerksam, wie Gesellschaften und Biografien interkulturell geprägt und vernetzt sind. Es folgt eine Liste der Veranstaltungen in und um Johannstadt:

Freitag, 25. September

14 bis 16.30 Uhr: Interkultureller Stadtrundgang

Die Dresdner Johannstadt aus den Perspektiven der Einwohnerinnen und Einwohner mit und ohne Migrationshintergrund. Veranstalter: Johannstädter Kulturtreff e. V., Wir sind Paten

Johannstädter Kulturtreff, Elisenstraße 35

Sonntag, 27. September

13 bis 18 Uhr: Vietnamesisches Vollmondfest 2020

Traditionelles, vietnamesisches Fest für Kinder und Familien mit Bühnenprogramm und Kinder-spielen zum Mitmachen. Veranstalter: Verein der Vietnamesen in Dresden e. V.

JohannStadthalle, Holbeinstraße 68

Mittwoch, 30. September

15.30 bis 17 Uhr: Workshop “Let’s Play Together – Auf der ganzen Welt wird gespielt”

Ob alleine oder zusammen, ob analog oder digital. In der Ausstellung „Schöne neue Cyberwelt?“ wollen wir uns mit Themen rund ums (Computer-)Spielen beschäftigen und in digitale Welten eintauchen.Veranstalter: Museen der Stadt Dresden

Technische Sammlungen, Junghansstraße 1 bis 3

Donnerstag, 1. Oktober

19 – 20.30 Uhr: Diskussionsrunde “Gemeinsam zu Tisch: Ein interreligiöses Gastmahl”

Mit den Gästen wird nach den Hintergründen religiöser Speisegebote und gleichzeitig deren Perspektive für eine nachhaltige Zukunft geforscht. Veranstalter: Deutsches Hygiene-Museum

Deutsches Hygiene-Museum, Lingnerplatz 1

Sonntag, 4. Oktober

11 bis 16 Uhr: Johannstädter Drachenfest

Das 15. Drachenfest auf den Elbwiesen heißt alle willkommen, in geselliger Atmosphäre ihre selbstgebauten Drachen steigen zu lassen und beim gemütlichen Beisammensein ins Gespräch zu kommen.Veranstalter: JohannStadthalle e.V.

Fährgarten Johannstadt, Käthe-Kollwitz-Ufer 23

Dienstag, 6. Oktober

18 bis 20 Uhr: Film “Fluch(t) oder Segen”

Ein Dokumentarfilm über Sachsens Zugezogene von Filmemacherin Elena Pagel. Er soll Migrant*innen sowie Geflüchteten in Dresden eine Stimme geben.Veranstalter: Johannstädter Kulturtreff e.V.

Johannstädter Kulturtreff, Elisenstraße 35

Mittwoch, 7. Oktober

15 bis 17 Uhr: Workshop Ornamentwerkstatt

Ornamente sind nicht nur Zierde, sondern haben religiöse und kulturelle Bedeutung. Verschiedene Ornamente werden untersucht und mit verschie-densten Materialien gestaltet.Anmeldungen an service@museen-dresden.de oder Telefon (03 51) 4 88 72 72 bis 6. Oktober. Veranstalter: Museen der Stadt Dresden

Technische Sammlungen, Junghansstraße 1 bis 3

Sonnabend, 10. Oktober

14.30 bis 17 Uhr: Baklava und Eierschecke – Interkulturelles Seniorencafé

Bei süßem Gebäck aus Dresden und aller Welt öffnet sich ein Raum zum Zuhören und Fragen-stellen: Geflüchtete und deren Paten erzählen vom Ankommen und vom Bleiben.Ausschließlich für Erwachsene. Veranstalter: Willkommen in Johannstadt e. V.

Johanneskirchgemeinde, Gemeindezentrum, Haydnstraße 23

Interkulturelle Tage Dresden 2020

Die Verhältnisse ändert nur, wer aktiv wird – Ein Neuanfang für den Wohnhof wie aus dem Bilderbuch

eingestellt am 21.07.2020 von Anja Hilgert (ZEILE), Headerbild: Mitsprache und Verständigungsbedarfkommen zu Wort auf der Projektwerkstatt zum Wohnhof Foto: Torsten Görg

Am sonnigen Sonnabend, den 11. Juli, konnte die lang geplante Projektwerkstatt zum Zusammenleben im Wohnhof  Pfotenhauer-/Hopfgarten/Elisenstraße stattfinden, die seit Frühjahr unter das Versammlungsverbot gefallen war. Für die Bewohner*innen des Wohnhofs wurde damit ein moderierter Beteiligungsprozess eingeläutet, der aus den angestauten Problemen einen Weg in Richtung realer Lösungsansätze bahnen soll. In der Corona-Zwischenzeit hatten sich die Konflikte eher verschärft, als dass sie weniger geworden wären. Nun wurde ein wichtiger Schritt nach vorne gesetzt.

Der Samstagnachmittag war sonnig, die Elbwiesen voller Menschen, die sich mit Spiel und Grill im Sommer verlustierten. Umso mehr erfreute die Veranstalter*innen der Projektwerkstatt, dass 40 Interessierte unterschiedlicher Herkunft im sommerlich gestalteten Garten des Johannstädter Kulturtreff e.V. zusammengekommen waren, um konkret an dem Thema zu arbeiten, das auf der Einladung stand: „Wie gestalten wir ein gutes Zusammenleben im Wohnhof Pfotenhauer-/Hopfgarten-/Elisenstraße?“

Musikalische Eröffnung der bunten Projektpräsentation durch Pablo Goméz   Foto: Torsten Görg

Wohnhofwohnen mit Konflikten

Die Plattenbauten im Karree Pfotenhauer-/Hopfgarten-/Elisenstraße beherbergen 28 Hauseingänge mit jeweils 40 Wohnungen. Das Zusammenleben der ca. 2.200 Mieter*innen im Wohnhof ist stark konfliktbelastet. Das alltägliche Leben vollzieht sich hier vor allem dicht an dicht, ist aber nicht zu einem Miteinander gewachsen.

Das sich selbst überlassene Nebeneinander unterschiedlichster Lebensrealitäten bereitet Reibungspunkte, die sich ziellos in die Umgebung entladen. Vor allem Lärm, Unsicherheit, Aggressivität und Müll breiten sich störend aus. Die Stimmung ist gekippt, und das schon seit einigen Jahren. Die Vielzahl unterschiedlicher Sprachen, die hier gesprochen werden, findet bislang den Weg noch nicht in eine Verständigung.

Aufgrund laufender Modernisierungsarbeiten herrschen derzeit erschwerte Zugangsbedingungen im Wohnhof.    Foto: Anja Hilgert

Die Bewohner*innen des Wohnhofs kommen u.a. aus Syrien, Indien, Kurdistan, Afghanistan, Pakistan, Bangladesch, Serbien, Ukraine, Kosovo, Tschechien, Russland, Tschetschenien, häufig aus Kriegsgebieten. Unterschiedliche Lebensgeschichten, Rhythmen, Bewältigungsmuster und Gebräuche treffen ununterbrochen aufeinander. Altmieter*innen fühlen sich mit ihren Gewohnheiten und Bedürfnissen bezüglich Ordnung, Sauberkeit, Ruhezeiten und Sicherheit nicht mehr wohl.

Frustration, Überforderung, Gleichgültigkeit und Anonymität stiften ein Klima von Verwahrlosung und Aggression. Fälle von Sachbeschädigungen, Vandalismus, Drogen und Gewaltbereitschaft ziehen Aufmerksamkeit auf sich.

Einrüstung im Wohnhof Pfotenhauer-/Hopfgraten-/Elisenstraße Foto: Anja Hilgert

Hilfe direkt aus Deinem Stadtteil

Der Johannstädter Verein Willkommen in Johannstadt e.V.  ist sensibilisiert für soziale und kulturelle Brennpunkte im Stadtteil. Mit Patenschaften, Hilfen und Angeboten fördern die Mitglieder – Bürger*innen der Johannstadt – mit hohem ehrenamtlichem Engagement das nachbarschaftliche Miteinander insbesondere mit Blick auf die kulturelle Verständigung, gegenseitigen Respekt, Toleranz und Neugier. Um die Wohnhofsiedlung aus ihrer Schieflage zu holen, hat der Verein mit Unterstützung des Quartiersmanagements Nördliche Johannstadt das Projekt „Kulturmittler“ für den Wohnhof entwickelt.

Beginnend mit der Projektwerkstatt am 11. Juli sollen Bewohner*innen in einem begleiteten Prozess sechs Monate lang dabei unterstützt werden, in Arbeitsgruppen eigene Projekte zur Verbesserung des Zusammenlebens im Wohnhof auf die Beine zu stellen. Für das Projekt hat die Vonovia knapp 5.000 Euro bereitgestellt.

Darüber hinaus bewilligte der Stadtteilbeirat für das Projekt weitere 3.600 Euro aus dem Verfügungsfonds Nördliche Johannstadt, mit dem Bund, Freistaat Sachsen und Landeshauptstadt Dresden Projekte zur Verbesserung der Lebensqualität im Fördergebiet „Soziale Stadt“ unterstützen.

Wer fragt, erhält auch Antworten

Ein engagiertes Kernteam, bestehend aus Anne Richter, Gabriele Feyler und Muawia Dafir, gestaltete Ende 2019 mit Förderung des Stadtbezirksbeirats Altstadt den Einstieg ins Wohnhof-Projekt (johannstadt.de berichtete): Insgesamt 56 Bewohner*innen verschiedener kultureller Herkunft wurden systematisch nach der Zufriedenheit mit ihrer Wohnsituation, ihren Vorschlägen und ihrer Mitwirkungsbereitschaft befragt.

Als nun am vergangenen Samstagnachmittag die Umfrageergebnisse öffentlich präsentiert wurden, kochte unter den Teilnehmenden die Gemengelage noch einmal richtig hoch.

Die Kunst des Zuhörens in wechselnden Positionen   Foto: Torsten Görg

Krach, Schmutz, Müll und Dreck

Klagen und Beschwerden hagelte es gegen die massive Belästigung durch Müll, Dreck und Schmutz in den Außenanlagen, auf Gehwegen, Hofgelände, Spielplatz bis hinein in Treppenhäuser, Fahrstühle, Flure.

Als Verantwortliche für den Wohnraum wurde die Vonovia von den versammelten Mieter*innen angeprangert: Die Belästigung durch Lärm und Schmutz im Zuge der sich über Jahre hinziehenden Sanierung wurde als untragbar moniert.

Ebenso die Ablagerung von Müll und Sperrmüll direkt vor der Haustür, deren Abfuhrkosten gleichmäßig auf alle Mieter*innen und deren Nebenkostenabrechnung umgelegt werden, anstatt neuzugezogene Mieter*innen, die die Regeln städtischer Müllentsorgung nicht verstanden haben, aufzuklären.

Viele Probleme, fehlende persönliche Ansprechpartner*innen, zurückgeworfen auf die eigenen vier Wände – der Unmut mancher Teilnehmenden war groß und brandete vehement und lautstark an die Vertreterin der Vonovia, die als Rednerin vorne stand.

Was die Vonovia vorhat

Lidia Sieniuta hatte die Aufgabe, vorzustellen, was die Vonovia tut, um die Probleme anzugehen. Keine einfache Rolle, doch sie stand sie durch. Sie zeigte Verständnis für die extreme Belastungslage im örtlichen Großbaustelleneck des Stadtteils: Von früh bis spät hatte das Wohngebiet erst die Baustelle des Güntzareals unmittelbar vor den Haustüren, nun dröhnt mit permanentem Hämmern und Bohren der Aldi Tiefbau durchs Viertel und der ganze Bönischplatz ist aufgerissen. Und dann auch noch die Modernisierungsmaßnahmen im Wohnhof selbst, zu denen die Vonovia aus Brandschutzgründen verpflichtet ist. Die Bewohner*innen des Wohnhofs haben es zurzeit nicht leicht.

Doch es gibt Licht am Ende des Tunnels, was die Bauarbeiten anbelangt: Die Sanierung und Modernisierung der Gebäude an der Pfotenhauerstraße 30 bis 36 ist bereits abgeschlossen. Hier wurden Balkone angebaut, Wärmedämmung angebracht, Wasser- und Abwasserleitungen und die Fassade erneuert. In den nächsten zwei Wochen folgt das Bauende auch an der Pfotenhauerstraße 12 bis 16, wo zusätzlich auch die Fenster ausgetauscht wurden. Fast abgeschlossen ist auch der Balkonanbau an der Hopfgartenstraße 4 bis 18, hier wird nach der Vogelbrutzeit im Herbst nur noch die Fassade im Innenhof gestrichen.

Noch bis 31. März 2021 müssen die Mieter*innen auf der Pfotenhauerstraße 18 bis 28 durchhalten, denn hier beginnen die Baumaßnahmen gerade erst. Ganz zum Schluss folgen dann ab 20. Juli 2021 noch die Elisenstraße 30 bis 36 und die Hopfgartenstraße 1 bis 5, wo die Zweiraumwohnungen ebenfalls Balkone erhalten und die Fassade neu gestaltet wird.

Auch dem Müllproblem will sich die Vonovia annehmen, denn „wenn die Tonnen wie zuletzt in Flammen aufgehen, ist niemand zufrieden“. Noch in diesem Jahr sollen deshalb der Müllstandplatz an der Pfotenhauerstraße 22 umzäunt und vergrößert sowie jener an der Pfotenhauerstraße 30 verlegt und umgestaltet werden. An der Stelle des bisherigen Containerplatzes auf der Pfotenhauerstraße 30 wird eine neue Fahrradabstellmöglichkeit geschaffen, und im Bereich der derzeit noch vorhandenen Baustelleneinrichtung an der Gerokstraße entsteht eine 500 m² großen Blühwiese mit Insektenhabitat und Sitzbänken.

Dampf und offene Fragen

Fragen und Vorschläge gab es so viele, dass damit problemlos eine eigene Veranstaltung gefüllt werden hätte können. Im Kessel kochte und schäumte es. Manche Frage konnte sofort geklärt werden, wie etwa jene, warum auch die Fassaden der bereits sanierten Gebäude neu gestrichen werden – weil ein mit der Stadt abgestimmtes Gesamtbild erreicht werden soll und es einfacher ist, die Malerarbeiten durchzuführen, wenn die Gerüste ohnehin gerade stehen. Oder die, ob auch an der Pfotenhauerstraße 36 eine weitere Blühwiese angelegt wird – das sei derzeit nicht geplant.

Viele Fragen blieben allerdings offen und wurden von Frau Sieniuta zur Beantwortung im Nachgang mitgenommen: Warum bekommen die Wohnungen an der Pfotenhauerstraße 18 bis 28 und 32 bis 36 keine Balkone? Warum gibt es in manchen Hausordnungen Ruhezeiten ab 19 Uhr und in anderen – bei den hellhörigen Häusern problematisch – erst ab 22 Uhr? Wie kann die Einhaltung der ausgehängten Arbeitszeiten der Baufirmen sichergestellt werden?

Wie erhalten Mieter*innen Mietminderung wegen der Lärmbelastung? Bergen die geplanten Automatikhaustüren Risiken für Rollstuhlfahrer? Warum wird herumliegender Müll drei Wochen lang nicht entfernt? Warum behandeln die Vonovia-Hausmeister alle Ausländer*innen respektlos, selbst wenn diese sich für Ordnung und Sauberkeit im Wohnhof engagieren? Warum bekommt nicht jede ausländische Familie einen Paten an die Hand? Warum gibt es noch immer keine mehrsprachigen Aushänge zur Mülltrennung? Können die Müllplätze Pfotenhauerstraße 32 bis 36 überdacht werden, damit der Müll nicht einfach von oben reingeworfen werden kann? Warum wurde das Waschhaus auf der Elisenstraße 36 halbiert? Was kann getan werden, wenn Menschen unter den Fenstern bis 23 Uhr Krach machen? Kann auf dem Spielplatz eine Rutsche ergänzt werden?

Immer wieder neu wurde Dampf abgelassen. Ein runder Tisch Vonovia-Mieter, der ebenfalls vorgeschlagen wurde, hätte wahrlich seine Berechtigung. Der Frust kam schwer zur Ruhe und prallte in einem fort an dieselbe Wand. Den einen hob es vom Stuhl, die andere schnaubte. Unkenrufe und Untergrundgeraune waren zu hören: „Das wird sowieso nicht. Immer dasselbe. Am Ende rührt sich doch nichts. Hat eh keinen Zweck.“

Aus dem Knick kommen

Es hatte sich festgefahren. An dieser Stelle stand zum Glück ein unerschrockener Moderator: In einem rasanten Perspektivwechsel gelang es Norbert Rost, die Stimmung aus der muffligen Meckerecke heraus und in Richtung besserer Aussicht zu lotsen. Es war klar, dass das Blaue nicht vom Himmel und auf die Dasitzenden nieder fallen würde. Wie also den Fokus auf das lenken, was möglich ist?! Erst einmal eine Kaffeepause. An einem liebevoll vorbereiteten Buffet ließ es sich im grünen Garten des Kulturtreffs gut schmausen. Das befriedete die Gemüter etwas.

Anschließend versuchte Matthias Kunert als betreuender Quartiersmanager, die Perspektive zu wechseln. Das Quartiersmanagement übernimmt seit 2015 im Auftrag der Stadt u.a. die Aufgabe, Bürgeranliegen zu sammeln und Projekte anzuschieben. In regelmäßigen Gesprächen leitet es die gesammelten Anliegen an die verantwortlichen Akteure weiter, darunter auch an die Vonovia und die Stadtverwaltung. Viele hätten sich bei ihm über die Zustände im Wohnhof beschwert, und viele Gespräche seien hierzu bereits geführt worden, sagt Matthias Kunert. Dabei habe er eines verstanden: Vonovia, Stadt und Akteure im Umfeld können Beiträge zur Problemlösung leisten, aber alleine lösen können sie die Probleme nicht. Das kann nur gelingen, wenn die Betroffenen selbst aktiv werden.

Das Quartiersmanagement als Mittler

Deshalb habe das Quartiersmanagement das Kulturmittlerprojekt gemeinsam mit Willkommen in Johannstadt angeschoben. Ziel sei es, konkret umsetzbare Kleinprojekte zu entwickeln, für die die Bewohner*innen selbst Verantwortung übernehmen und bei denen klar ist, wer macht was bis wann und was kostet das. Um evtl. Kosten für die Umsetzung der Kleinprojekte zu decken, hat nicht nur die Vonovia weitere Unterstützung in Aussicht gestellt.

Auch beim Quartiersmanagement können Bewohnergruppen Förderung aus dem Verfügungsfonds beantragen. Als Beispiel nennt Matthias Kunert die Idee einer Mieterinitiative aus dem Jahr 2018, die Bewirtschaftung von Grünflächen im Bereich Elisenstraße bis Pfotenhauerstraße 20 zu übernehmen. Hierfür wurden unter der Trägerschaft des Stadtteilvereins Johannstadt mit der Vonovia eine Vereinbarung getroffen, Sträucher, Samen und Werkzeug gekauft und fast 3.000 Euro Förderung aus dem Verfügungsfonds bewilligt. Die Vonovia habe Räume und weitere Unterstützung bereitgestellt. Wo ein Wille ist, ist also auch ein Weg.

Moderation in Richtung Zukunft: Norbert Rost auf der Bühne Foto: Torsten Görg

Was kann die Bewohnerschaft tun?

Norbert Rost zögerte im Anschluss keinen Moment: „Was können und wollen Sie tun?“, fragte der Moderator und ergriff Menschen direkt beim Wort, wenn sie sich meldeten oder auch nur mit den Schultern zuckten. Prompt waren alle in Arbeitsgruppen eingebunden, die sich in direkten Austausch begaben, „um miteinander daran rumzudenken“.

Über emotionale Befangenheiten half ein großformatiges Arbeitsblatt hinweg, an dessen Fragen sich das Grübeln entlang hangeln konnte. Ohne dass es ausdrücklich bemerkt wurde, waren die Bewohner*innen kulturübergreifend miteinander in regem Kontakt, und allseits an den Arbeitstischen war Gespräch, wurden Ideen entwickelt. Am Ende fanden sich die Bewohner*innen selbst in die Lage versetzt, eigene konkret umsetzbare Mini-Projekte nach ihren Vorstellungen zu planen, die zur Verbesserung des Zusammenlebens im Wohnhofs beitragen würden.

Sieben auf einen Streich

Das hatten am Anfang wohl nur die wenigsten geglaubt: Dank persönlichen Engagements der versammelten Bewohner*innen starteten aus diesem Werkstattnachmittag sieben Initiativ-Projekte für den Wohnhof. Und die Bewohner*innen zeigten, was eben doch möglich ist!
Nach den Gesprächskreisen war die Stimmung eine völlig andere. Der Knoten war geplatzt, es wurde gescherzt, gelacht und nach dem Mikrofon gegriffen.

– Eins –
„Ich, Ulla“, meldete sich eine Bewohnerin und stellte das Projekt ihrer Gruppe vor: Einen Begegnungsraum schaffen für die Hausgemeinschaft, wie es ihn früher schon gegeben hatte, zum Ausrichten von Feiern und Festen, auch mit mehr Gästen, für Hausversammlungen und zum Zusammenkommen untereinander, mietfrei zur Verfügung stehend für alle Mieter*innen. Die Vonovia will ihre Unterstützung prüfen.

– Zwei –
Um dem hauptsächlichen Störfeld im Wohnhof Herr zu werden, titelte die nächste Gruppe ihr Projekt: „Ich mag’s sauber“. Hier geht es um Mülltrennung und die mehrsprachige Unterweisung richtiger Müllentsorgung. Angeschafft werden sollen Lastenroller, mit denen Sperrmüll kostenfrei zum nahen Wertstoffhof am Tatzberg gefahren werden kann. Auch eine Erklärung in Sachen Mülltrennung von Frauen für Frauen, von Haustür zu Haustür ist angedacht sowie die Anerkennung und Auszeichnung von Menschen, die sich bereits seit langem ehrenamtlich um die Spielplatzreinigung kümmern.

– Drei –
Die als ungenügend befundene Spielplatzlösung und mangelnder Anschluss im Wohnhof war Auslöser für die Idee eines Eltern-Kind-Treffs. In den Hof prallt heiß die Sonne, es gibt keinen schattigen Sitzbereich, auch kein Spielgerät, an dem Kinder wirklich Freude haben. Jetzt ergriff die mutige Mays das Mikrofon und stand ein für ihren Wunsch nach Anschluss zu deutschsprechenden Nachbar*innen. Ein Treffpunkt für Mütter und Väter mit ihren Kindern zum Spielen und Deutsch sprechen soll entstehen, möglichst in Kooperation mit der im Wohnhof befindlichen Integrativen Kindertagesstätte Tabaluga.

Im Tandem für Eltern-Kind-Treffs     Foto: Torsten Görg

– Vier –
Mit ihrem Einstieg „Ich bin das Projekt Blumenfee“, ließ die Sprecherin unmissverständlich erkennen, dass es um Begrünung für den Wohnhof geht, darum, „Grün zu erhalten und zu pflegen“, „etwas mehr Farbe ins Wohngebiet zu bringen“ und „Nachbarn anzustecken, etwas mitzutun.“ „Kräftige Hände, nicht nur meckernde Männer“ wünschte sich die Projektfürsprecherin für ihr Projekt und sprach Bedarf an für einen Werkzeug- und Geräte-Raum, den die Hausgemeinschaft in Teamarbeit nutzen könne. Der Kontakt mit dem bereits bestehenden Projekt zur Grünflächenbewirtschaftung soll hergestellt werden.

Blumenfee im Einsatz fürs Wohnhof-Grün Foto: Torsten Görg

– Fünf –
Unter dem Motto „Du bist nicht allein“ kündigte eine Dame in ihren Achtzigern das Projekt an, einen Seniorentreff für den Wohnhof zu organisieren und hatte Vorschläge, sich sowohl mit dem Bundschuhtreff zu vernetzen, als auch die Caféteria im Haus Palmental anzufragen, einmal pro Woche dort Gemeinschaft zu leben.

Vernetzungsvorschläge für Senior*innen im Wohnhof Foto: Torsten Görg

– Sechs –
Raum zu schaffen für Jugendliche, „besonders für Jungs“ im Alter von 10-17, war das von einer einzelnen Fürsprecherin vorgebrachte Anliegen, die beobachtet, wie sehr gerade Jungen im Wohnhof in der Luft hängen und dann für ihre überschüssige Energie Wege der Beschäftigung suchen, die eher Besorgnis erregen. Sie will Träger der Jugendarbeit wie den Deutschen Kinderschutzbund gewinnen, um mobile Angebote, z.B. eine Fahrradwerkstatt oder einen kreativen Bau-Workshop für motorisierte Fahrzeuge zu organisieren.

– Sieben –
Von allen begrüßt wurde die Ankündigung einer letzten Projektgruppe, unter dem Motto „Wir feiern unsere Nachbarschaft“ im Wohnhof ein Hoffest auszurichten. Nur für den angedachten Termin am 26.9. ist zu bedenken, dass just an diesem Tag im September in unmittelbarer Straßen-Nachbarschaft dieses Jahr das Bönischplatzfest alias Bundschuhstraßenfest geplant ist. Hier bedarf es vielleicht noch eines verständigenden Nachgangs im Viertel für eine Terminabsprache.

Das nächste Treffen kommt

Damit die Ideen tatsächlich in die Umsetzung gelangen, kommt es auf gute Zusammenarbeit an. Unterstützung ist gewährleistet durch die beiden Projektleiter*innen Anne Richter und Gabriele Feyler, die den Beteiligten bis Dezember vermittelnd bei der Planung und Verwirklichung ihres Mini-Projektes zur Seite stehen. Erste Termine für die nächsten Treffen werden diskutiert.

„Am Ende sehr gelungen“, zeigte sich Matthias Kunert mit der Projektwerkstatt zufrieden. „Möge es gelingen, die zu spürende Motivation der Teilnehmenden hochzuhalten und weitere Engagierte anzubinden, um alle sieben und hoffentlich noch weitere Themen substanziell angehen zu können… Ich bin gespannt.“
Gespannt dürfen alle am Prozess Beteiligten nun sein, bis im September dann zum Fest im Wohnhof geladen wird. Ein konkreter Termin steht noch aus.

Weitere Informationen:

  • Willkommen in Johannstadt e.V. – Projekt Kulturmittler*innen Wohnhof
    Web: www.willkommen-in-johannstadt.de
    E-Mail: zusammenleben@willkommen-in-johannstadt.de

Chronik eines angekündigten Todes – Im Gedenken an Marwa El-Sherbini

eingestellt am 06.07.2020 von Anja Hilgert (ZEILE), Headerbild: Auf der Gedenkfeier zu Ehren Marwa El-Sherbnis am 1.Juli im elften Jahr nach dem Mord. Foto: Anja Hilgert

Anja Hilgert und Mohammad Ghith al Haj Hossin haben die Gedenkveranstaltung zum elften Todestag der aus rassistisischen Motiven ermordeten Marwa El-Sherbini besucht. Entstanden ist eine Co-Produktion: Zwei bewegende Artikel aus unterschiedlichen Perspektiven. Lesen Sie im Folgenden die Eindrücke und Gedanken von Mohammad Ghith al Haj Hossin:

Der Schriftsteller Gabriel García Márquez hat einen tollen Roman geschrieben. Er heißt ‚Chronik eines angekündigten Todes‘. Es geht um den Mord eines Arabers mit Migrationshintergrund, Santiago Nassar, in einem kleinen kolumbianischen Dorf.

Alle Leute im Dorf wussten, dass Nassar von Zwillingsbruder Vicario getötet werden würde, aber niemand hat versucht, diesen Mord zu verhindern. Obwohl sie auch wussten, dass Nassar unschuldig ist. Sie ließen ihn alleine seinem tragischen Schicksal begegnen. Ist das Hasskriminalität? Es ist eine von vielen Interpretationen des Romans.

Halluzinationen fanatischer Menschen

Man fühlt sich am falschen Ort, wenn man nach seiner Herkunft, Religion oder Hautfarbe behandeln wird. Man kann diese Diskriminierung und diesen Rassismus nicht nur im fremden Land erfahren, sondern auch in seiner Heimat. Könnte es sein, dass eine Gesellschaft nur aus Weißen oder Schwarzen besteht? Kam es je vor in der Geschichte, dass es eine solche Gesellschaft gegeben hat? Gehören solche rassistischen Gedanken zur Realität oder nur zu den Halluzinationen fanatischer Menschen?

Diese Fragen bleiben immer offen, obwohl die Antworten sehr einfach sind: Nein, in der Tat gab es niemald es eine solche Gesellschaft. Es sind Halluzinationen fanatischer Menschen, die nur extreme Gruppen bilden können.

Gruppierung bei der Gedenkfeier am 1.Juli
Foto: Mohammad Ghith Al Haj Hossin

Es ist ein verletzendes Gefühl, das viele Narben in der Seele nach sich zieht, besonders für Menschen, die vor dem Krieg geflohen sind. Wenn sie glauben, dass ihre Menschlichkeit keine Rolle spielt im Vergleich zu ihrer Herkunft oder Religion. Rassismus zeigt uns sein hässliches Gesicht im Alltagsleben, deswegen haben viele Geflüchtete, die unter Rassismus und Diskriminierung in Deutschland leiden, besondere Geschichten mit ihren alltäglichen Erfahrungen.

Aber man darf in Anbetracht dieser negativen Gefühle nicht aufgeben. Man muss die Opferrolle vermeiden. Man hat in Deutschland unabhängig von Herkunftsort oder Hauptfarbe das Recht, dagegen zu klagen.

Rassismus beginnt in der Kindheit

Manche Menschen, die fremd sind, begegnen alltagsrassistischem Handeln mit Schweigen. Vielleicht haben sie Angst, ihre Stimme zu lauten oder, weil sie nicht wissen, dass sie durch Gesetze das Recht haben, dagegen zu klagen. Und natürlich: wenn sie die Sprache nicht beherrschen, können sie nicht gegen diese schlimme Handlung protestieren.

Ich bin davon überzeugt, dass es Rassismus nicht nur in Deutschland oder Europa gibt, sondern in allen menschlichen Gesellschaften. Rassismus fängt an in der Kindheit, zu Hause mit den Eltern oder in der Schule. Um es gut wahrzunehmen, braucht man sich nur ernst zu fragen, warum ist jemand mit seiner Familie von seiner Heimat geflohen? Der Fakt lautet: Wegen Hasskriminalität, Rassismus und Abwesenheit des Gesetzes. So entstehen extreme Reaktionen, die einen Menschen zu einem Henker machen.

Lesen Sie hier den Artikel von Anja Hilgert

Dein Name, Marwa – Im Gedenken an Marwa El-Sherbini

eingestellt am 06.07.2020 von Anja Hilgert (ZEILE), Headerbild: Auf der Gedenkfeier zu Ehren Marwa El-Sherbnis am 1.Juli im elften Jahr nach dem Mord. Foto: Anja Hilgert

Anja Hilgert und Mohammad Ghith al Haj Hossin haben die Gedenkveranstaltung zum elften Todestag der aus rassististischen Motiven ermordeten Marwa El-Sherbini besucht. Entstanden ist eine Co-Produktion: Zwei bewegende Artikel aus unterschiedlichen Perspektiven. Lesen Sie im Folgenden die Eindrücke und Gedanken von Anja Hilgert:

Deinen Namen zu kennen

Ich habe dich nicht gekannt, doch nun weiß ich deinen Namen.
Weil du getötet worden bist. Das hat dich mir bekannt gemacht.
Dein Name musste ausgesprochen werden, wiederholt werden, viele Male, bis in meinem Gesicht der Blick frei geworden ist, mein Gesichtsfeld offen wurde für dich.

Wie haben wir gelebt nebeneinander, ohne einander zu kennen?
Dieses Nicht-Kennen. Nicht Wissen-wollen. Jetzt geht mir nicht aus dem Sinn, deinen Namen zu sagen, zu lernen, deinen Namen auszusprechen, ihn laut zu üben, bis er so klingt wie du heißt.
Wir sprechen r und w einzeln hart nacheinander aus, jeden Buchstaben für sich. Es gibt wenig Worte, in denen der Laut vorkommt in meiner Sprache. In deinem Namen klingen r und w weich ineinander, es macht einen anderen Klang, den aus meinem Mund gesprochen, die Lippen erst üben zu formen, ihn zu runden und rollend zu entlassen bis er bei dir wieder ankommt.

Geboren in einem der sieben Weltwunder

Geboren in Alexandria, die Alexander der Große gegründet hat, antike Stadt, eines der sieben Weltwunder und Stadt der großen Bibliothek, bist du in römisch-byzantinischer Kultur verwurzelt. Unser Treffpunkt ist das schöne Florenz an der Elbe.

Du klingst nach einer starken, blühenden Frau, hast kraftvoll mit dem Arm ausgeholt, Handball gespielt in der Nationalmannschaft deines Landes, hast Pharmazie studiert, hast geheiratet, hast einen Sohn, trugst ein zweites Kind in dir, hast vertraut, mit ihnen zu leben.

Ein Mann hat sich Dir in den Weg gestellt, dir die Berechtigung abgesprochen, hier zu sein, hat dir den Weg verstellt, frei zu leben.
Du hattest Vertrauen, lebensvoll zu sein, dich zu entfalten.
Er trug Gedanken, die dem Leben nicht erlauben zu sein wie es ist. Abgeschnürte Gedanken, die vor sich hin Bilder schaffen und eine Welt definieren nach dem Diktat der Gedanken.

Gedanken, die so eng sind, dass sie Gewalt anwenden müssen, um das Pulsieren des Lebens, das vital ist und schöpferisch, da hineinzupassen, in dieses gedankliche Gitter. Beharrliche Gedanken, die beschneiden, drücken, pressen und prügeln müssen und am Ende mit Messern zustechen, um das klein zu bekommen, was sie nicht zu fassen vermögen.

In Gedanken gerüstet

Ich habe solche Gedanken.

Ich höre Gedanken nach Eindeutigkeit, Sicherheit, Zuverlässigkeit, nach Lösungen und Plänen verlangen. Gedanken, die attackieren, was anders ist als es Gedanken mir vorgestellt haben. Das Starren, das Gliedern, Sortieren, Vergleichen in mir, im Verlangen, fest zu machen und in den Griff zu bekommen, was überraschend, chaotisch, unberechenbar, wandelbar und wild ist in mir. Und unterdrückt von einer Last an Gedanken, die nicht nur meine sind. Die Generationen gedacht und ein Gehege der Wirklichkeit damit erstellt haben, das uns fern hält vom Vollzug des Lebendigen.

Jetzt einen Moment nur da sein. Dazwischen. Mich einschieben zwischen die Angst und die Rüstung. Nicht weiter absichern. Nicht zwingend krampfhaft in die Aufrechte gehen mit starrem Rückgrat. Stehen bleiben, kauern und zulassen, was kommt. Runterkommen von den Barrikaden, die verhindern, dass ich und was mir begegnet, da ankommen, wo mein Herz blank liegt.

Hoch ausgerüstete Sicherheit hat nichts ausgerichtet.
Im höchsten Saal der Ordnung, im Landesgericht, vor Richtern und Anwälten und Kräften, die Sorge tragen für Recht und Aufrichtigkeit – da bist du erstochen worden.
Gedanken, die zur Rüstung zwängen, sind grausam. Sie bedingen Ohnmacht, die einsetzt, wenn das Gerüst fällt. Ohnmächtig und betäubt stehen wir vor der systematischen Abriegelung des Herzens und trauen uns nicht zu, Mensch zu sein.

 

Zur Abstimmung in den Stadtrat gereicht: Ein Name für die Straße am Landgericht     Foto: Anja Hilgert

Im elften Jahr: Die Marwa El-Sherbini-Straße

Im elften Jahr deines Todes bin ich auf die Spur deines Lebens gesetzt.
Dasitzend vor dem hohen Gebäude, vor der Wand, die aufragt, vor den schweren Türen, so schwer die Portale, dass sie mit der Hand nicht zu öffnen sind. Sitzen und harren im namenlosen Gebiet vor dem Justizpalast, im Brachland, das die Macht des Gebäudes verantwortet, das für sich alleine dort ragt.
Herkommend von der Straßenkreuzung, dem Fluss, der Brücke, den Wegen, die hier sich bündeln, halten wir an, versammeln uns im Niemandskorridor zwischen Chaos und Ordnung und treten in Kontakt mit dieser Ohnmacht, die um sich greift und Offizielle zum Stammeln, zum Suchen nach Worten bringt.

Dem Gebiet einen Namen vergeben, heißt, es zu benennen – Marwa El-Sherbini-Straße soll der kleine Abschnitt nun heißen.
Nicht nur nächstes Jahr, wenn wir zum 1.Juli wieder dort versammelt stehen, sondern mit allen, die dort sind, jeden Tag und jede Stunde und minütlich, gehen wir in deinem Namen und finden zu einer Stimme, die aus der Ohnmacht aussteigt und Starre und Schweigen durchbricht.

 

Mit Rosen bezeugte Anwesenheit        Foto: Anja Hilgert

Ich frage dich, wie du heißt

Ich brauche keine Rose, nicht weiß und nicht langstielig, edel angeboten zu bekommen, um da zu sein. Mein Strauß ist feuerrot und leuchtend gelb, in warmem Orange und tiefem Violett. Meine Blumen sind selbst gepflückt und sie feiern den Mut, die Beherztheit, das Selbstvertrauen, den Drang zur Freiheit.

Ich möchte dich kennenlernen
Ich frage dich, wie du heißt.

 

Lesen Sie hier den Artikel von Mohammad Ghith al Haj Hossin

Virenschutzprogramm zur Rettung der Soziokultur im Quartier

eingestellt am 25.06.2020 von Anja Hilgert (ZEILE), Headerbild: Not macht erfinderisch: Das aktuelle Heft des Johannstädter Virenschutzes Foto: Anja Hilgert

Die Kulturszene hat hart mit den Corona-Einschränkungen zu kämpfen. Leere Sitze, leere Bühnen, leere Kassen. Wie weit die Hoffnung auf angekündigte “Rettungsschime” trägt und wen sie dann rettet, ist wie bei der Wettervorhersage derzeit nicht gewiss. Wem Warten und Hoffen nicht reicht,  um  lange schon geplante und angekündigte enthusiastische Programme an den Start und unters Publikum zu bringen, schafft neue Bündnisse: Um die Johannstädter Soziokultur zu retten, gibt es jetzt ein Virenschutzprogramm.

Betriebswirtschaftliches Aus für Kultur-Vereine

Wer ein Vierteljahr, also tatsächlich drei volle Monate lang als Kulturbetrieb ohne Kundschaft bleibt, steht betriebswirtschaftlich vor dem Aus. Nach einem vollen Quartal ohne Einnahmen ergibt die Rechenprobe schlicht ein Verlustgeschäft, das sich für Vereine wie den Johannstädter Kulturtreff e.V. im fünfstelligen Bereich bewegt.

Der Eintritt ist dosiert, Türen weit geöffnet: Der Johannstädter Kulturtreff e.V. Foto: Anja Hilgert
Der Eintritt ist dosiert, Türen weit geöffnet: Der Johannstädter Kulturtreff e.V. Foto: Anja Hilgert

In ihrer Pressemitteilung vom 24. Juni betont die Zweite Bürgermeisterin der Landeshauptstadt Dresden und Beigeordnete für Kultur und Tourismus, Annekatrin Klepsch: „Angesichts der mehrwöchigen Betriebsuntersagungen und der fortdauernden Hygieneauflagen ist die wirtschaftliche Situation der Kultureinrichtungen existenzgefährdend.“ Es sei zu bedauern, dass die kommunalen Kultureinrichtungen bisher in keinem Hilfsprogramm von Bund und Land berücksichtigt wurden.

 

Sächsischer Landtag beschließt Millionen-Hilfspaket für Kultur (und Tourismus)

Der Haushalts- und Finanzausschuss des Sächsischen Landtages hat am 24. Juni das vom Kabinett beschlossene Hilfspaket für Kultur und Tourismus in Höhe von mehr als 60 Millionen Euro bestätigt. Mit diesen Mitteln will der Freistaat besonders die von der Corona-Pandemie betroffenen Einrichtungen und Akteure in Kultur und Tourismus unterstützen. Ob der besagte ‚Rettungsschirm’ auch bei kleineren Vereinen wie z.B. dem soziokulturellen Zentrum des Johannstädter Kulturtreff e.V. ankommt, ist ungeklärt. Ein guter Teil von deren Finanzierung hängt jedoch an der institutionellen Förderung durch die Stadt. Der andere Teil, der durch Raumvermietungen selbst erwirtschaftet wird, ist abrupt ausgefallen.

Bürgermeisterin Klepsch appellierte an die Regierung des Freistaates Sachsen, die Situation kommunaler Kultureinrichtungen für die Zukunft in den Haushaltsverhandlungen des Freistaates mit zu bedenken: „Die Einnahmeausfälle infolge der Schließung und die extrem eingeschränkte Zuschauerkapazität infolge der Hygieneauflagen führen auch in den kommunalen Kultureinrichtungen und damit den Haushalten der Rechtsträger in eine finanzielle Schieflage.“

Insbesondere Vereine und Institutionen, die den Zweck kultureller Bildung verfolgen und entsprechende vielfältige Veranstaltungen anbieten, sind von der negativen Bilanz betroffen. Wo sich niemand versammeln darf, macht keine Veranstaltung Sinn. Das Programm fällt ins Wasser.

Soziokultur auf der Rettungsinsel

Damit nicht der ganze Verein baden geht, müssen Veranstalter sich etwas einfallen lassen und im wahrsten Sinne des Wortes etwas veranstalten: Der Johannstädter Kulturtreff e.V. hat nun aus eigenen Kräften nach rettenden Ringen gegriffen und sich mit einem besonderen Einfall wieder an Land gezogen: Unter dem wunderbar bissig, spielerisch lustig formulierten Titel ‘Virenschutzprogramm’ hat die Verantwortliche für Veranstaltungen, Vermietung, Pressearbeit im Johannstädter Kulturtreff e.V., Lisa Metziger ein Heft gezaubert, das Angebote und Mitmachaktionen vereint, „die liebgewonnene Kursangebote zu den Leuten nach Hause bringt.“

Um alternative Wege der Kulturvermittlung einschlagen zu können, begab sich die Mitarbeiterin auf die Suche nach Fördergeldern, die über die Erweiterung im digitalen Raum auf Facebook und Instagram hinaus den Verein wieder handlungsfähig und für seine Interessierten zugänglich machen könnten.

Jury des Fonds Soziokultur ist überzeugt

Ihre eingereichte Zusammenstellung der breit aufgestellten, vielfältigen Kulturangebote, die das Haus seinen Nutzer*innen von 6 bis 99 Jahren, von 9 Uhr bis 21 Uhr übers ganze Jahr in parallel laufenden Veranstaltungen bietet, von Schach, Sport, Tanz und Sprach- und Kochkursen über Keramik-, Strick-, Sing-, Malwerkstätten bis zu Skatrunden, Gartenlabor und Festeskreisen hat die Jury des Fonds Soziokultur überzeugt.

Unter 180 Bewerbungen wurden 65 ausgewählt, davon zwei in Dresden und davon eine in der Johannstadt: Mit der Höchstfördersumme von 5.000 Euro des ad hoc-Förderprogramms ist die neuinitiierte Programmheftreihe des Virenschutzprogramms fortlaufend alle zwei Monate bis zum Jahresende gesichert.

Kultur im Quartier zum Mitnehmen Foto: Anja Hilgert

Riesenerleichterung für die Verantwortlichen

Für die lokalen Verantwortlichen ist das eine Riesenerleichterung: Es sichert den Fortbestand der Bindung, die das Zentrum lebhaft und mit viel Engagement zu den umliegenden Bewohner*innen des Stadtteils unterhält. Nun erhalten die umliegenden Haushalte postalisch zugestellt das kostenlose Programm, dass mit viel Einfallsreichtum vor den Folgen des Virus schützt, indem es in Kontakt bringt: „Ein Programm, in dem für jede*n etwas dabei ist. Alles ist gerade nicht drin, aber wir haben geschafft, vieles zu ermöglichen“, sagt Lisa Metziger, der nur wenig Zeit blieb, das erste Heft zu produzieren. Nun ist es da und wird seit der Wiedereröffnung des Kulturtreffs Mitte Juni positiv aufgenommen.

Bei gutem Wetter im Garten

Schließlich wäre nach Maßgabe des Abstandgebotes für alle Räume nur eine sehr begrenzte Besucher*innenzahl erlaubt – in den großen Veranstaltungsraum dürfen 15 Personen Zugang erhalten, in der Werkstatt inklusive Kursleitung nur neun.

Allein die Skatgruppe zählt 20 Teilnehmende. Somit dürfte nur acht Spielenden erlaubt sein, mit Mundschutz die Karten zu schmettern. Das reißt bestehende Gruppengefüge auseinander und macht keinem der Beteiligten Spaß. So das Wetter mitspielt, gibt es zum Glück den Bonus des großen Gartens, in den sich die Duzendschar strickender Frauen gut sammeln kann oder die Paarpartie Senior-Junior beim Schach.

Vieles ist möglich und der Garten ist offen: Soziokulturelles Zentrum der Johannstadt Foto: Anja Hilgert

Vieles ist möglich geworden, wenn auch längst nicht das, was vom Potential her möglich wäre. Doch das täglich wechselnde Bild wieder stattfindender Aktivitäten und Begegnungen rund um den kulturellen Treffpunkt des Viertels stimmt auch unabhängig von Sonnenschein gelöst und freudig. Wer aus den verschiedenen Gründen nicht kommen kann, hat nun ein Programm für zuhause und kann so das Heft selbst in die Hand nehmen.

Hand in Hand mit den Honorarkräften, die mit ihren Kursen für vielfältiges Lernen und offene Begegnungsräume sorgen, füllt das Alternativprogramm volle zwanzig Seiten mit individuell von den Kursleiter*innen erstellten Anregungen, Anleitungen und Infos aus den angestammten Kursangeboten.

Damit ist eine Kontinuität hergestellt, Liebgewonnenes geht nicht verloren und die gewünschte persönlich menschliche Bindung wird nochmal anders neu belebt, zum Nachlesen, Austüfteln und Schmökern, mit Mitmachaktionen und inspirierenden Möglichkeiten der Teilnahme.
Damit hat der Verein in Zeiten fehlender Rückfinanzierung eine Möglichkeit geschaffen, seine Honorarkräfte zu bezahlen, die als freie Kulturschaffende finanziell im Freien stehen.

Weiterführende Informationen

    • Das aktuelle Heft des Virenschutzprogramms für Juni/Juli 2020 liegt im Johannstädter Kulturtreff e.V. zum Mitnehmen aus und ist auf der Homepage als Download verfügbar.
    • Fragen und Anregungen bitte an: Lisa Metziger, Tel: 0351 210 45 86, E-Mail: lm@johannstaedterkulturtreff.de

Kunst im Umschlag – Ein Kreativprojekt für Mädchen durchbricht das Abstandsband

eingestellt am 23.06.2020 von Anja Hilgert (ZEILE), Headerbild: Mit kreativem Werkzeug und Farbe in Kontakt bleiben - Das Kreativprojekt für Mädchen in der Johannstadt Foto: Anja Hilgert

Seit zwei Jahren trifft sich eine Gruppe von Mädchen zum künstlerischen Experimentieren im kreativen Austausch mit zwei Künstlerinnen, die den Raum halten für freies, absichtsloses und unvorhersehbares Schaffen, das zu einmalig schönen Ergebnissen führt. Kreativwerkstatt hört sich gleich zweimal schöpferisch an: Sich von der eigenen Lust am Gestalten beflügeln lassen und eine Werkstatt vorfinden, die alles Benötigte an Materialien und Werkzeugen bietet.

Das Kursangebot von Anja Klengel, Kunstpädagogin und Kunsttherapeutin,  und Alexandra Mieth, freie Künstlerin, Kunsttherapeutin und Musikerin, gilt im Stadtteil als Geheimtipp. Seit zwei Jahren öffnen die Werkstattleiterinnen im Johannstädter Kulturtreff e.V. immer mittwochs weite Türen für zwölf unterschiedlichste Mädchen zwischen acht und 14 Jahren.

Mit einem künstlerischen Angebot, das in Qualität und Anspruch ausdrücklich auf Hochwertigkeit setzt, möchten die beiden Frauen insbesondere für Mädchen die Möglichkeit zu kultureller Teilhabe und persönlicher Entfaltung im Johannstädter Stadtteil eröffnen.

 

Alexandra Mieth (li) und Anja Klengel (re) halten die Werkstatt offen   Foto: Johannstädter Kulturtreff e.V.

Wir haben die Jungs nicht weggeschickt

Aus einer Hochdruckwerkstatt und dem Folgeprojekt einer Druckwerkstatt hat sich über zwei Jahre das Kreativangebot ‘Fingerabdruck’ entwickelt, eine Weiterentwicklung aus einem einmaligen Sommerferienangebot hin zum wöchentlich stattfindenden Kursangebot an Mädchen der Altersgruppe 8 bis 14 Jahre.

„Wir haben die Jungs nicht weggeschickt“, beteuern die beiden Leiterinnen. Es hat sich dahin entwickelt, dass sie diesen geschützten Raum anbieten, in dem Mädchen unter sich sind. Viele Mädchen hatten nicht nur das Bedürfnis nach kreativem Tun, sondern auch nach einem Treffpunkt.

Geplant war das nicht und hat sich eher zufällig und mit der Zeit so ergeben, bestätigt sich aber für die beiden Kursleiterinnen als kraftvolle Idee: Einfach sein zu können, wie sie sind, und tun zu können, worauf sie wirklich Lust haben und was ihnen im Moment entspricht, keine Forderung oder Verpflichtung verspüren, nichts zu müssen, erweist sich für die Mädchen als kostbare Erfahrung.

Künstlerisches Ergreifen: Wer bin ich? Wer will ich sein? Was passt zu mir?

Die Werkstatt macht das Ergreifen der eigenen Lust am Gestalten möglich: Hier ist jede, die kommt, voll für sich selbst verantwortlich. Es gibt keinen Auslöser für den Druck gefallen zu wollen, sich abgrenzen, durchsetzen oder konkurrieren zu müssen. Das Gegenüber für unterschiedlichste mitgebrachte Emotionen und Gedanken, ist das zur freien Verfügung gestellte Material der Werkstatt.

Für die beiden Künstlerinnen Anja Klengel und Alexandra Mieth ist das der pädagogische und auch therapeutische Auftrag ihrer Arbeit: „Es geht um vorpubertäre Themen“, fasst Anja Klengel die Bedürfnislage zusammen: „Die vielen entscheidenden Fragen: Wer bin ich? Wer will ich sein? Was sind meine Stärken, meine Schwächen? Was passt zu mir? Wie bin ich in meinem Körper?“

Wunderliche Wandelwesen     Foto: Anja Hilgert

Mit allen Sinnen aktiv

Unterschiedlichste Methoden aus dem Bereich der Bildenden Kunst, die immer variieren, immer andere Impulse setzen, funktionieren als Anstiftung, mit allen Sinnen aktiv zu werden. So gibt es überraschende selbst entwickelte Antworten bei der Erforschung und Entdeckung von sich selbst und der Umwelt.

„Entscheidungen für die oder die Methode werden immer aus dem Prozess der Gruppe getroffen“, erklärt Alexandra Mieth, die Leidenschaft darin entfaltet, die Mädchen auf ihren kreativen Reisen zu begleiten und zum gegenwärtigen Entwicklungsstand passende künstlerische Methoden vorzustellen.

Die Vertrautheit beider Kursleiterinnen miteinander fördert einen leichten, spielerischen Zugang, die Disziplinen auch einmal miteinander zu verknüpfen: Ergänzend bieten sie Yoga und Bodypercussion an, um mit dem eigenen Körper in Verbindung zu kommen. Überhaupt aufzuspüren, was individuell an dem Tag ansteht.
Um Tatkraft und Begeisterung müssen sie sich nicht bemühen, die fließen reichlich. Da gilt es eher, rechtzeitig zu erkennen: „Die müssen sich auch mal groß ausbreiten dürfen,“ und an der Wand oder auf dem Fußboden entsprechende Formate bereit zu halten.

Fisch - Ein Begriff macht den Anfang. Foto: Anja Hilgert
Fisch – Ein Begriff macht den Anfang. Foto: Anja Hilgert
Was dann sichtbar wird wird "Kunst im Umschlag" Foto: Anja Hilgert
Was dann sichtbar wird wird “Kunst im Umschlag” Foto: Anja Hilgert

Ein Schutzraum vor Leistung

Ihren Kurs bezeichnen sie als „Ausgleich zum leistungsorientierten Schulalltag“.
Gerade vor dem Hintergrund von LernSax und Homeschooling und unter unmöglichen Bedingungen weiter zu erbringenden ‚Leistungserhebungen’, sei deutlich geworden: „Es ist ein erklärter Schutzraum vor Leistung“. Häufig ginge es besonders bei Mädchen darum, „ gut zu sein, besser zu sein, hübsch zu sein, zu brillieren – Wir denken nicht ‚Jetzt müsste sie doch’, wir versuchen das nicht zu pushen“, sagt Anja Klengel.

Über die Kinder reicht das Angebot bis nach Hause zu den Eltern, die erkennen können, „wie wichtig ist Kreativität und dass die Töchter den Raum dafür haben.“

Alles anders im Shut down

Seit März diesen Jahres aber war alles anders: Infolge der Pandemie blieb der Johannstädter Kulturtreff e.V. (JoKT) geschlossen. Es war unmöglich geworden, sich überhaupt miteinander zu treffen. Pinsel, Stifte, Farben und Papier blieben unabgeholt im Regal und fanden nicht mehr zusammen. Es entstanden keine Bilder mehr. Keine Farbmischungen und auch nicht die Linie einer Zeichnung. Die blieben bei den Kindern und Jugendlichen, die regelmäßig das Angebot aufgesucht hatten, in den Köpfen und Gliedern stecken. Und keiner zuhause, der das wie sonst immer mittwochs abholte.

Griff in die Fülle: Kunst im Umschlag. Foto: Anja Hilgert
Griff in die Fülle: Kunst im Umschlag. Foto: Anja Hilgert

Schulsozialarbeiter berichten im Nachgang der coronalastigen Zeit, wie die plötzlich verordnete Isolation und die anmoderierte Spontan-Digitalisierung für Kinder und Jugendliche noch einmal anders Spuren hinterlassen hat, als es Statistiken von Wirtschaft und Finanzmarkt führen können.

Verunsicherungen, Sorgen und Nöte verliefen oftmals im Unsichtbaren, ohne mitgeteilt bzw gehört zu sein und nicht selten griff die schleichende seelische Belastung tiefer unter die Haut, wie die Dresdner Kinder- und Jugendbeauftrage Anke Lietzmann zum Kindertag vermeldete (johannstadt.de berichtete).

Abstand einhalten, Distanz überbrücken

Um es dahin gar nicht erst kommen zu lassen, ließen sich Anja Klengel und Alexandra Mieth etwas einfallen, um ihre jungen Teilnehmerinnen trotz Kontaktverbot dennoch zuhause zu erreichen und miteinander in Verbindung und Austausch zu bringen. Natürlich auf künstlerischem Kommunikationsweg: Das Kursprojekt ‘Kunst im Umschlag’ wurde geboren.

Ein Kreativprojekt aus der Werkstatt auf digitale Medien umzustellen, „fühlte sich sperrig an“, sagt Anja Klengel, „lieber nah dran bleiben und praktisch was machen.“ Dennoch schickte sie zuerst eine Einladung zum Zoom-Meeting in die Runde – und erhielt keine Rückmeldung.
So entstand die alternative Idee, um im Abstand die Distanz aufzubrechen.

Schaffen Perspektive: Alexandra Mieth und Anja Klengel                                     Foto: Anja Hilgert

Wenn Dir eins nicht zusagt, schick’s zurück

In einen DIN-A4-Briefumschlag steckten sie zwei beliebige Bildanfänge zum Auswählen: Wenn Dir eins nicht zusagt, schick’s zurück“, stand dabei, mit passender Gebrauchsanweisung zum weiteren Vorgehen. Gearbeitet wird mit Absender-Codes, „um nicht richtig zu wissen, wer hat das jetzt gemacht.“

So liegt von Anfang an die Betonung auf dem Ganzen als einem künstlerischen Prozess, an dem gleichwertig verschiedene Künstlerinnen miteinander wirken. Was entsteht, ist offen. Das ist als Zielsetzung wichtig: Es gibt kein Ziel zu erreichen. Alles entsteht im gemeinsamen Unterwegs-Sein.

Die jeweils weiter daran arbeitende Künstlerin wird intuitiv und spontan bestimmt: „Wer könnte sich angesprochen fühlen? Wer braucht gerade etwas?“ Insgesamt arbeiten zwei bis vier Mädchen am Bildprozess. Jede Adressatin aus dem Kreis der Mädchen arbeitet dann für sich selbst am zugesandten Bild ihrer Wahl weiter, so weit sie möchte und vermag und schickt es zurück an die Leiterinnen.

Manchmal ein Tag, manchmal zwei Wochen

Ein frankierter Rücksendeumschlag liegt dabei – „Es ist ein kostenfreies Angebot und soll auch in schwierigen Zeiten ohne Kosten für die Teilnehmenden sein.“ Unterstützung gab es für das Projekt im Programm ‘Kultur macht stark. Bündnis für Bildung’.

Den Anfang finden: Hut, Amboss, Blumentopf oder Pullover oder ganz etwas Anderes?      Foto: Anja Hilgert

Manchmal lag zwischen Beginn und Fertigstellung ein Tag, manchmal zwei Wochen, erzählen die Kursleiterinnen. Die finale Entscheidung liegt dann bei der kunstpädagogischen Einschätzung der beiden Frauen, die auch Sammelstelle für alle fertiggestellten Bilder sind.

Auf der Internetplattform Artdoxa findet sich eine erste virtuell ausgestellte Sammlung aller in diesem Zeitraum entstandenen Bilder. Der tatsächliche Schatz an fertig gestellten Bildern wartet nun auf die, die ihn geschaffen haben in der Werkstatt des JoKT: Die Aussicht darauf klingt bei beiden Kursleiterinnen sehnsüchtig vorfreudig: „Wenn wir uns wiedersehen dürfen…“

Detailgestaltung aus dem Zufall  Foto: A. Hilgert

Einem Farbfleck vertrauen

Ideen kommen mit dem Tun. Sich aufs Papier einlassen, das mit nur einer Spur an Bemalung oder Zeichnung versehen ist oder nur ein Element von irgendetwas aufweist, von dem man auch nicht genau weiß, was es ist. Sich einfach einlassen auf das, was da ist. Das schafft eine besondere Ruhe, die immer irgendwo im Zeitrahmen des Kurses auftaucht und wie als Lotsin die Gruppe ins Tun bringt.

Jede für sich beginnt, an einem Punkt auf dem Papier. Hier in der Werkstatt geht es so zu, dass etwas frei entstehen darf. Es entsteht unter der Hand, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Die Mädchen sind meist selbst überrascht, was sie hervorbringen und was das Bild ihnen zeigt: Das ist durch Dich entstanden. Das hast Du geschaffen. „Welten eröffnen, die möglicherweise einen bleibenden Platz haben im Leben,“ nennt Alexandra Mieth dieses Ergebnis.

Das Bild gehört allen

Wie die Mädchen aufeinander eingehen, begeistert die Künstlerin, was sie im Umgang miteinander voneinander lernen: „Achtsam sein, feinfühlig werden, Gespür entwickeln für Grenzen, was geht noch, was nicht mehr. Dass jemand gewaltig drüber malt ist nie vorgekommen. Es gibt eine große Ehrfurcht und eher die Frage, ‚Darf ich hier was dazu machen.’“

Gruppenprozesse in gemeinsamen Bildentwürfen beweisen: Das Bild gehört allen und ist nur da aus allen. Das fällt beim Betrachten der Bilder auf: Verschiedenheit des Ausdrucks auf einem Blatt, mit Überschneidungen, Berührungen, Nebeneinander, Ergänzungen, Humor und Leichtigkeit. Es ist ein Spiel miteinander, das mit vielen Künstlerinnen am Werk reiche, farbintensive und erzählfreudige Bilder schafft.

Blickwechsel aus verschiedenen Brillen                    Foto: A. Hilgert

Zu dem Projekt kommen immer wieder einmal neue Mädchen dazu, manchmal über Umwege. Eine Schulsozialarbeiterin hatte in der Schulberatung die Brücke zum Projektangebot geschlagen. So kam ein Mädchen in die Werkstatt dazu, die aus ihrem Kulturkreis heraus nicht einfach im Stadtteil für Aktivitäten außerhalb der Schule hätte unterwegs sein dürfen. Hierher brachte sie nun die Mama und holte sie nach den Kursstunden wieder ab. Nach ein paar Mal durfte das Mädchen sogar alleine vom Kurs nach Hause gehen.

Wiedereröffnung am 15. Juni 2020

Der Impuls der Kreativwerkstatt wird mittlerweile durch die Johannstadt bis in viele Kulturkreise hinein getragen. Über das Teilen von Erfahrungen spricht sich das Angebot positiv in der breiten Klientel des JoKT herum: „Aus sich heraus bringt es kaum jemand zur verbindlichen Anmeldung. Es braucht Menschen, die über die Schwelle begleiten“, sagt Anja Klengel, „Bewerbung über Flyer bringt nicht viel, es läuft über persönlichen Kontakt. Wir könnten uns auch Vorstelltage in Schulen vorstellen.“

Die Wiedereröffnung des Johannstädter Kulturtreff e.V. am 15. Juni fällt in den Zeitraum des 30-jährigenVereinsjubiläums. Die Macherinnen haben dazu unter den notwendigen Hygiene-Auflagen das “Virenschutzprogramm” zusammengestellt, in dem kostenlose Kursangebote Brücken bauen in Freiräume freudvoller Lebensgestaltung. Ideen und Impulse der Soziokultur, um neue Anfänge zu stiften für junge bis alte Bewohner*innen des Stadtteils, sich aktiv einzubringen und untereinander kreativ Kontakt zu finden – auch die Kunst im Umschlag ruft auf, Anfänge für neue Bilder zu gestalten!

Weiterführende Informationen

  • Malwerkstatt jeden Mittwoch zwischen 15.30 und 18.30 Uhr im Johannstädter Kulturtreff, Elisenstraße 35

Verstrickte Schicksale: Frauen, Nadeln und ein verbindender Faden

eingestellt am 18.06.2020 von Philine Schlick, Headerbild: Gemeinsam Schönes schaffen: Die Frauen des Strick-Kurses verständigen sich mit Nadel und Faden. Foto: Annelie Gunkel

Beitrag von Mohammed Ghith Al Haj Hossin

Selbstgemachtes erlebt derzeit eine Rennaissance. Dass Stricken nicht nur Hände und Füße, sondern auch Herz und Seele wärmen kann, hat unser Autor Mohammed Ghith Al Haj Hossin bei seiner Frau beobachtet. Sie lernte durch das Stricken eine neue Sprache und neue Freundinnen kennen. 

Stricken als Medizin

In unseren heutigen Zeiten suchen wir nach Hilfsmitteln, die uns ein gesundes Leben geben. Wir treiben Sport, meditieren und machen Yoga, um unseren Körper und unsere Seele von den negativen Auswirkungen des Alltags zu befreien. Aber können Sie sich vorstellen, dass ein Pullover oder ein Paar Socken stricken wie ein magisches Rezept gegen Alzheimer und Stress ist? Es gibt noch viel mehr Vorteile dieser besonderen Handarbeit, zum Beispiel: es fördert das Erinnerungsvermögen und man kann das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen mindern.

Es war üblich in den siebziger und achtziger Jahren in Syrien, dass Frauen, während des Besuches, in der Tasche Wollknäule und Stricknadeln hatten. Sie saßen, unterhielten sich, tranken Kaffee und strickten. Es ging um Gespräche, Konzentration und Freundschaft.

Vom Hobby zum Lebensunterhalt

In dieser Zeit waren die Nächte des Winters lang und kalt. Man musste etwas gegen die Langeweile machen, vor allem auf dem Land. Deswegen befanden Frauen das Stricken als gute Sache, die sie ihren Töchtern als Tradition beibringen sollten.

Viele Hände schaffen mit vielen kleinen Griffen warme Decken im Kursprojekt "Stricken Interkulturell". Foto: Annelie Gunkel
Viele Hände schaffen mit vielen kleinen Griffen warme Decken im Kursprojekt “Stricken Interkulturell”. Foto: Annelie Gunkel

Später in den folgenden Jahren ging das Stricken zurück wegen der Strickmaschinen, die die Kleidung schneller und günstiger produzierten. Aber sie waren weniger schön, weil ihnen die sanften Hände und Blicke von Frauen fehlten. Als wir kleine Kinder waren, waren wir stolz auf die farbigen Pullover, die unsere Mütter gestrickt hatten.

Nach dem Krieg in Syrien in 2011 begann das Stricken wieder, aber dieses Mal nicht als Unterhaltung sondern als Arbeit, die vielen syrischen Familien in Syrien, Libanon, Jordanien und in der Türkei geholfen hat die Lebenskosten zu tragen.

Stricken als Brücke

Im Jahr 2013 wurde Annelie Gunkel vom Ausländerrat Dresden gefragt, ob sie ein Projekt für geflüchtete Frauen entwickeln und durchführen möchte. Sie fragte sich, wie sie den Frauen bei der Integration helfen könnte? Übrigens wusste sie gut, dass die Frauen die deutsche Sprache nicht sprechen konnten.

Die Damen von "Stricken Interkulturell": Gespräche, Freundschaft, Konzentration. Foto: Manal Aeroota
Die Damen von “Stricken Interkulturell”: Gespräche, Freundschaft, Konzentration. Foto: Manal Aeroota

“Meine Idee war, über eine kreative Initiative den Frauen die Teilnahme zu vereinfachen und das gemeinsame Stricken und Häkeln als ‘Brückenbauer’ für alle Frauen mit und ohne Deutschkenntnisse zu sehen”, sagt Annelie Gunkel.

Es ist eine kreative Idee! Nach diesem mutigen Anfang entwickelte sich das Projekt zu Freundschaften und Hilfe bei Fragen zu Schule, Kindergarten, Ämtern, Wohnungssuche usw. Das neu geborene Projekt heißt Integrationsprojekt „Stricken Interkulturell“, der Träger ist der Johannstädter Kulturtreff e.V.

Internationale Familie

Als wir in Dresden angekommen sind, ging meine Frau zum Kulturtreff. Damals konnte sie kein Wort Deutsch. Ich erinnere mich daran, wie sie begeistert war, als sie über das Stricken sprach. Ich fragte sie: “Warum bist du so glücklich, wenn du doch die deutsche Sprache nicht reden kannst?” –  “Wir haben die Körpersprache (Mimik, Gestik) genutzt als Medium zum Verstehen und es funktioniert sehr gut”, antwortete meine Frau.

Danach hat sie sich mit vielen Frauen angefreundet, darunter Frau Gunkel. Frauen, die aus 15 Nationen stammen stricken hier, wie ein Bienenkasten voll von Bewegung und Begeisterung. “Manche Frauen stricken sehr gerne und viel, andere möchten sich unterhalten und Unterstützung in Fragen des täglichen Lebens bekommen. Wir haben uns als internationale Familie gesehen und das ist bis heute geblieben”, so Frau Gunkel.

Annelie Gunkel leitet wöchentlich den kostenfreien Kurs für Stricken und Sprache im Johannstädter Kulturtreff. Foto: Manal Aeroota
Annelie Gunkel leitet wöchentlich den kostenfreien Kurs für Stricken und Sprache im Johannstädter Kulturtreff. Foto: Manal Aeroota

Aber man kann sich vorstellen wie schwierig es ist, wenn man aus seiner Heimat geflohen ist, um sich selbst und seine Familie zu schützen. Deswegen leiden diese Frauen unter vielen Problemen. Heimweh, Sprachschwierigkeiten, Arbeitssuche und vielem mehr.

Frau Gunkel gab sich viel Mühe, um diese komplizierten Probleme zu lösen. Sie hat heraus gefunden, dass das Familienkonzept in diesem Bereich sehr hilfreich sein konnte. “Ich versuche so gut es mir möglich ist zu helfen und zu vermitteln. Und auch hier hilft das Gefühl Mitglied einer Familie zu sein. Ich wünsche mir sehr, dass ich mit meinem Projekt dazu beitrage, die Frauen ein bisschen glücklicher zu machen.”

Masche für Masche

Nach sieben Jahren geht es nicht nur um Stricken sondern auch um Beratung, Reisen, und Deutschkurse. Heute gibt es viele Frauen beim Stricken, die sehr gut Deutsch sprechen, arbeiten und studieren. In diesem Sinne hat Frau Gunkel geschafftt, dass ihr Projekt nicht nur sein Ziel erreicht hat, sondern auch ein Teil ihres Lebens wurde.

Es müssen nicht immer Pullover und Socken sein, wenn es ums Stricken geht. Foto: Annelie Gunkel
Es müssen nicht immer Pullover und Socken sein, wenn es ums Stricken geht. Foto: Annelie Gunkel

Frau Gunkel fügt hinzu: “Ich persönlich habe sehr wertvolle Freundschaften geschlossen, ich respektiere und schätze alle Frauen und freue mich, dass ich dieses Glück habe, mit all diesen Frauen gemeinsame Wege in die Zukunft gehen zu können.”

Stricken Interkulturell

  • jeden Mittwoch zwischen 14 und 17 Uhr im Begegnungsraum des Johannstädter Kulturtreffs
  • Elisenstraße 35, 01307 Johannstadt

Sprung in die Lebendigkeit – Zum International Mother Language Day im Johannstädter Kulturtreff

eingestellt am 29.02.2020 von Philine Schlick, Headerbild: Vielfalt an Angeboten und Ansprechpartner*innen Foto: Meike Weid, Johannstädter Kulturtreff

Beitrag von Anja Hilgert

Die Vorstellung, dass die Sprache, die die Mutter spricht, nicht nur in ihre Umgebung nach außen tönt, sondern auch nach innen, in den eigenen Körper und zu dem Kind, das sie darin trägt – ist ein gefühlvoller Nachklang des begegnungsreichen Nachmittags am 21.Februar im Johannstädter Kulturtreff anlässlich des International Mother Language Day.

Muttersprache zu pflegen, was bedeutet das? Warum ist es von Bedeutung, in der eigenen Sprache sprechen, denken und träumen zu können? Und wie gelingt Verständigung?

Das Gefühl von Heimat

Die Muttersprache bindet in die eigene familiäre, verwandtschaftliche, die regionale, kulturelle und im weitesten Sinne irdische Herkunft. Die Identität wurzelt in ihr. Sie hat schon vor dem körperlichen Eintritt in den Erdenraum das Dasein ummantelt wie eine Klangglocke. Die Sprache ist Mittlerin in unsere Herkunft. In der Sprache fühlen wir uns zuhause. Und sie nehmen wir überall hin mit, wenn wir unser Heimatland verlassen. Dann trägt wie mütterlich die Sprache im fremdklingenden Raum dieses Gefühl von Heimat.

Den Faden finden und im Kreis bewegen, Mandalakunst am Anfang. Foto: Anja Hilgert

Ein Gewimmel von bestaunenswerten Menschen füllte den Veranstaltungssaal. Manche waren in schillernder Kleidung gekommen, paillettenbesetzt, aufwändig bestickt oder farblich überleuchtend, die Frisuren gesteckt, der Scheitel gezogen, Lippen bemalt inmitten einer weniger auffälligen Menge und doch markanten Vielfalt auch derer, die in Alltagskleidung als Gäste der Veranstaltung gekommen waren.

Jedes Alter war vertreten. Dort saßen die Frauen höheren Alters, die Hände in den Schoß gelegt, wohnten mit und ohne Kopfbedeckung dem Treiben wohlwollend lächelnd  bei, an den Pfeilern lehnten Männer, standen locker verteilt in den hinteren Reihen, ein paar Teenager drückten sich an der Wand entlang und auf Matten verteilt und in voluminösen Sitzsäcken versunken gruppierten sich die vielen Kinder jeglichen Alters.

Der International Mother Language Day war die Auftaktveranstaltung einer Reihe, die unter dem Titel „Platte im Wandel – Kreatives Stadtlabor“ das Johannstädter Stadtteilleben in künstlerischen Ansätzen bewegen, anregen, erlebbar machen will.

Mitmachen, ausprobieren, kennenlernen

Im Rahmen des Projektes PLATTENWECHSEL – Wir in Aktion fand er in Kooperation mit dem ESF-Projekt Kulturlotsen – Brücken zwischen den Kulturen der Zentralbibliothek im Vereinshaus des Johannstädter Kulturtreffs so zum ersten Mal statt. Der veränderten, noch ungeübten sprachlichen und kulturellen Vielfalt im Stadtteil war ein Ort geöffnet für Ausdruck und Austausch.

Vielfalt an Angeboten und Ansprechpartner*innen
Foto: Meike Weid, Johannstädter Kulturtreff

Bewohner*innen der Johannstadt waren Akteur*innen und Ansprechpartner*innen und boten Workshops zum Mitmachen, Ausprobieren und Kennenlernen unterschiedlichster kultureller Techniken und Fähigkeiten. Mitteilungsdrang und die Freude, sich zu zeigen, schufen eine erwartungsfrohe Stimmung. Aus jeder Richtung der Welt kam ein Puzzlestück ins vibrierende Ganze.

Ein stolzer Tanz aus Bangladesch, von Mutter und Tochter dargeboten, eroberte eingangs das Parkett. Dann ein Duo aus Mann und Frau, er aus Indien, sie aus Griechenland, kein Paar, sondern Interessenverwandte, turnten verbal durch griechische Zahlenreihen, mit denen humorvoll und bunt der Satz des Pythagoras erklärt war wie in noch keiner Schule.

Wortschatz: BH und Odol

Eine asiatisch anmutende Portugiesin wies an sich selbst darauf hin, mit ihrem Aussehen keinem Klischeebild zu entsprechen und nahm, während sie den Gesang des Fado vorstellte, allen unausgesprochenen Irritationen den Wind aus den Segeln. Damit brachte sie geschickt die Themen von Bikulturalität, Muttersprache und Mehrsprachlichkeit, Diversität und Migrationshintergrund ins Spiel, der an diesem Nachmittag hoch im Kurs stand.

Ein indonesischer Student mit „Vatermörderkragen“ hatte lustigen Sinn für solche Vokabeln und auch fürs Phänomen viktorianischer Kolonialherrenkleidung. Mit seiner Ko-Referentin, die in bewusster Lust das Indonesische vortrug, klärten sie auf, dass aus Dresden der BH und Odol fest in den indonesischen Sprachschatz aufgegangen sind. Dann knallte, schnalzte und zischte der Raum von Lauten eines südafrikanischen Dialekts – welcher es war von den zwölf oder 300?, oder wie in Indonesien 700 gelebten Sprachen, das war nicht mehr zu ermitteln.

in-, Zwei-, Vielsprachigkeit und die Nachbarschaft der Kulturen in Aktion
Foto: Meike Weid, Johannstädter Kulturtreff

Mitten hindurch zog der Kasperle eine lange Kette von Kindern hinter sich her und verschwand gemeinsam mit Zauberern und Oma Sonja zum Spielen im Nebenzimmer. Weit entfernt von den Straßen im Süden ihres Landes, hatte eine Inderin den Sinn der Mandalas neu entdeckt und leitete steif gewordene Hände und Hirnwindungen an, in geschickter Handhabe mit mehrfarbigen Fäden das kunstvolle Geheimnis um Stäbchen zu wickeln.

Im Anschluss an die Präsentationen und das Singen teilten sich die Teilnehmenden auf verschiedene Workshops auf und machten in kleinen Gruppen Erfahrungen z.B. mit der Chinesischen Teezeremonie, mit Kalligraphie, Henna-Tattoos oder betätigten sich ganzkörperlich beim Bollywood-Dance und einem Bellydance-Workshop. Für die Kinder gab es einen Malwettbewerb, der am Ende ausgewertet wurde.

Es wurde viel gelacht im Vielsprachengewirr. Die Erdkugel drehte nicht schnell genug, um mit dem begeisterten Tempo der Darbietungen Schritt zu halten.

Kaleidoskop der Interkulturalität

Der Ablauf von vier Stunden Festprogramm war glücklich geordnet angeschrieben, denn tatsächlich hätte man verloren gehen können in der dicht aufeinanderfolgenden Fülle tänzerischer, musikalischer, landeskundlicher und insgesamt kultureller Beiträge: Aus Bangladesch, Indien, Rumänien, Südafrika, Singapur, Arabien, Portugal, Griechenland, Indonesien, Deutschland, China und vielleicht noch weiteren unentdeckt gebliebenen Ländern wurden kunstreich, ambitioniert oder humorvoll vielverzweigte Aspekte kultureller Herkunft ergründet.

Von den Veranstalterinnen moderierend verknüpft, ergab sich ein kühnes Kaleidoskop von Interkulturalität. So ist es also, und das kann entstehen, wenn unterschiedliche Kulturen frei aufeinandertreffen können und sich gegenseitig den Raum schenken, im Sprechen, im Lauschen und Zuhören, im Genießen, Staunen und Erkennen.

Expert*innen für magische Kreisformen
Foto: Meike Weid, Johannstädter Kulturtreff

Das Publikum sprang mit seiner Aufmerksamkeit mit auf die Bühne, nahm regen Anteil und erhielt schließlich die unwiderstehliche Aufforderung, mitzusingen in einem sich gerade aufbauenden Lied. Kaum ein*r widerstand. In riesengroßem, gemeinsamem Kreis, der sie alle mit einschloss, die da waren, wurden mit Ellen und Karo Lieder gesungen, die kultur- und sprach- und identitätsübergreifend einfach sehr, sehr viel Spaß machten. Danach war der Wärmepegel erheblich gestiegen, fand Auswege in glühende Wangen und leuchtende Augen. Kleine Wortwechsel entstanden hier und da, manche schüchtern, mit stärker wechselnden Blicken und einem Lächeln, manchmal wurde ein ganzes Gespräch daraus.

Emotional erreichte die Veranstaltung ihren Höhepunkt mit dem Auftritt von Sani, der mit seiner Gitarre innig verbunden ein mehrstrophiges Lied sang, mit dem Titel Ami Banglay Gaan Gay. Dieses Lied war ergreifend schön. Die Kinder wurden alle still und lauschten, die Schultern der Erwachsenen sanken tiefer und im Laufe der Strophen entspannte der ganze Saal, wurde ruhig und war hingegeben. Mit diesem Lied, das nur dargeboten und nicht näher erläutert worden war, erklärt sich ohne weitere Worte der Beweggrund eines International Mother Language Day. Auch der stolze Impetus der Tanzaufführung zum Eingang des Festes versteht sich von hier aus besser.

Mandala in Vollendung. Foto: Anja Hilgert

Bangla ist die Muttersprache der Bengalen. In schon zwanzigjähriger Tradition wird der International Mother Language Day rund um den Globus immer am 21.Februar gefeiert. Dieses Datum legte die UNESCO Konferenz 1999 in Bangladesch fest im Gedenken an die vier Studenten, die nach der Kolonialzeit für das Recht der Bengalen auf ihre Muttersprache im damaligen Ost-Pakistan protestiert und ihr Leben gelassen hatten. Heute ist jener Teil Ostpakistans der unabhängige südostasiatische Staat Bangladesch, dessen Name sich zusammensetzt aus bangla ‚bengalisch‘ und desch ‚Land‘.

Hinweis der Redaktion: Der im Rahmen des Projektes „Online-Stadtteilmagazin“ erschienene Beitrag wurde nicht von der Landeshauptstadt Dresden bzw. dem Quartiersmanagement erstellt und gibt auch nicht die Meinung der Landeshauptstadt Dresden oder des Quartiersmanagements wieder. Für den Inhalt des Beitrags ist der/die Autor*in verantwortlich.

Frieden muss nicht leise sein

eingestellt am 18.12.2019 von Philine Schlick, Headerbild: Wie bestellt fielen zögerlich die ersten Schneeflocken. Foto: Philine Schlick

… das bewies das 5. Fest des Friedens am vergangenen Freitag. Flitzende Kinder, klingende Saiten, ein rappelvolles Café Halva und der erste Auftritt des Dresdner Plattenchores zeigten, dass Besinnlichkeit durchaus vital sein kann.

Ich habe mich gerade von einem Hasen in eine Spinne verwandelt, jetzt greife ich nach den Sternen. Nein, ich habe keine Fieberträume, sondern bin Teilnehmerin einer Klang-Yoga-Runde beim Fest des Friedens des Johannstädter Kulturtreffs.

Die Yoga-Position “Spinne” trainiert auch die Lachmuskeln. Foto: Philine Schlick

Große und kleine Partnerinnen bilden mit verschränkten Händen oder Rücken an Rücken die Tiere in einer erzählten Geschichte nach, dass es wohlig in den Sehnen zieht. Im Anschluss finden wir uns liegend zu einer Traumreise ein, die uns von warmen Licht durchflutet im Tiefschnee versinken lässt. Ein Bild, das sich jeder Braunbär zum Einschlafen wünscht.

Widerstand zwecklos: Das Kuchenbuffet des Café Halva. Foto: Philine Schlick

Das Paradies ist ein interkulturelles Buffet

Apropos Braunbär, ich habe Bärenhunger. Ich breche also aus dem Sportraum ins Café Halva auf, das mit dem prächtigsten Kuchenbuffet seit dem Schlaraffenland kulinarisch den Beweis erbringt, dass das Paradies interkulturell sein muss: Muffins und Sahnekuchen, Früchtchen und Hörnchen kommen auf immer neuen Platten aus der Küche angeschwebt. Das Wunder: Die Kuchenberge werden aufgrund ihrer Zierde so ehrfürchtig behandelt, dass kaum ein Krümel daneben geht.

Das Kurbeltheater bebilderte und vertonte die “Bremer Stadtmusikanten”. Foto: Philine Schlick

Ebenerdig geht es weiter im Seminarraum I, wo das Kurbeltheater die Bremer Stadtmusikanten zeigt. Auf eine seidene Stoffbahn gemalte Bilder illustrieren das Grimm’sche Märchen. Sie ziehen über eine Walze in einem hölzernen Kasten vorüber – ein Kinoerlebnis der besonderen Art. Der Sitzsack unter mir hat noch größeren Hunger als ich, und um nicht im Halbdunkeln in ihm zu versinken, lasse ich die vier Tiere nach Bremen ziehen und bewege mich selbst in die obere Etage.

Vor dem Kuschel-Kamin-Zimmer des Kindertreffs JoJo diskutieren drei Jungen, ob das hinter der Tür cool oder was für Babys ist. Nachdem ich nachgeschaut habe, komme ich zu dem Schluss, dass beides zutrifft. Die Jungen vor der Tür sind mittlerweile zu einer Einigung gekommen: Das Zimmer mit dem Kaminfeuer auf dem Flachbildschirm ist für Babys, aber das JoJo ist cool. Sie stürmen auf Socken davon.

Johannes Gerstengarbe beim Gitarrenspiel. Foto: Philine Schlick

Singende, klingende Platte

Aus dem Veranstaltungsraum klingt Musik. Johannes Gerstengarbe entlockt seiner Gitarre verträumte Töne, bevor sich Viktor und Friedrich die Bühne für den Sketch “Welche Feinde hat Deutschland?” erobern. Für dessen Verständlichkeit wäre der Verzicht auf das Textbuch zuträglich gewesen. So bleibt die Antwort auf die Frage, die der Beitragstitel stellt, für mich offen. Aber das ist in diesem Fall durchaus tröstlich.

Die Bühne wird frei für den internationalen Kinderchor.

Weihnachtsbeleuchtung an Johannstädter Balkonen. Foto: Philine Schlick

Ein Blick aus dem Fenster rückt durch die herab gesunkene Dunkelheit die nächsten Hauptakteure ins richtige Licht: Die bunt leuchtenden Johannstädter Balkone. Der Dresdner Plattenchor hat ab 17 Uhr alle Gäste in den Innenhof zum gemeinschaftlichen Singen eingeladen. Nächste Nachbarn können ihr Organ vom heimatlichen Balkon aus erschallen lassen – eine famose Idee!

Mich tragen die ersten Klänge auf dem Fahrrad davon, zur nächsten Station. Aber die liegt nicht auf der Elisenstraße. Hektik? Ach nö, Advent!

Hinweis der Redaktion: Der im Rahmen des Projektes „Online-Stadtteilmagazin“ erschienene Beitrag wurde nicht von der Landeshauptstadt Dresden bzw. dem Quartiersmanagement erstellt und gibt auch nicht die Meinung der Landeshauptstadt Dresden oder des Quartiersmanagements wieder. Für den Inhalt des Beitrags ist der/die Autor*in verantwortlich.