Mit Heinz Kulb hat die Stadtteilredaktion einen erfahrenen Johannstädter Autor gewonnen, der sich auf den Spuren “der ganz normalen Menschen” durch Archive wühlt und mit spitzer Feder den Staub von vergangenen Ereignissen pustet. Nachweisbare Hintergründe, Namen, Ereignisse, Adressen sind unterhaltsam in Geschichten aufgearbeitet und geben so durch das eine oder andere Augenzwinkern den Blick auf einen vergangenen Alltag frei, der an Aktualität oft nichts eingebüßt zu haben scheint. Folge 1: Zusammenleben ist nicht einfach.
Die Kohlrouladen hatten gemundet. Satt und zufrieden im Sessel am offenen Fenster sitzend, genoss Pensionär Daniel David seinen Verdauerli, einen Kräuterlikör. Der Duft der warmen Maienluft in diesem Frühlingsmittag des Jahres 1910 vollendete sein Wohlbefinden. Sein Geist ließ die Augenlider langsam der Schwerkraft folgen, als er von einem plötzlichen Lärm auf der Straße aus den Armen von Morpheus gerissen wurde.
Mehrere Kinder aus dem Haus und aus der Nachbarschaft hatten sich Rollschuhe angeschnallt und zogen schreiend ihre Bahnen auf dem asphaltierten Stück der Johannstädter Elisenstraße*, zwischen Dürer- und Holbeinstraße gelegen. Mit einem Fluch auf den Lippen und drohender Faust forderte David seine Mittagsruhe ein. Doch die Halbwüchsigen zeigten ihm eine Nase und drehten ihre Kreise weiter. Wütend schloss er das Fenster.
Die Kehrseite des Fortschritts
Erst im vergangenen Herbst erreichte der gegenüber in der Nummer 22 wohnende Asphalthändler Adolf Ebert, dass die Stadt dieses Teilstück der Elisenstraße finanzierte und mit einem Belag von Eberts Firma überzog. Dadurch wurde es ruhiger für die Anlieger. Kein Rumpeln mehr durch die Fuhrwerke auf Kopfsteinpflaster. Nur wenig Lärm durch die neuen Automobile. Die Anwohner waren begeistert. Aber nicht lange. Da entdeckten die Kinder und Jugendlichen den anderen Vorteil der Straße. Mit Rollschuhen konnte man viel Spaß haben, zum Leidwesen der älteren Bewohner. Und es kamen immer mehr Kinder.
Wehret den Anfängen
Und das tat Pensionär David, indem er sich an seine geliebte Zeitung, den Dresdner Nachrichten, wandte. In flinker Schrift auf gutem Papier ließ er seiner Wut freien Lauf. Zunächst beklagte er sich über „das Treppenjagen von oben nach unten, das einen leidenden Menschen zur Verzweiflung bringen kann. Die vierte Etage (im Haus Elisenstraße 23) ist reichlich bevölkert, die dritte dito mit Pensionären von besseren und höheren Schulen, die zweite desgleichen. Sämtliche größeren oder kleineren Kinder jagen täglich wie die Wilden von oben bis ins Parterre.“
Dann kam das nächste Problem, das den ordnungsliebenden ehemaligen Buchhalter eines Ziegelwerkes in Striesen sprichwörtlich auf die Eiche im Innenhof des Carrés bringen konnte. „Ebenso finden es viele Bewohner bequemer, den Aschengrubendeckel mit aller Wucht zuzuschlagen, anstatt ihn am Henkel anzufassen und ruhig zuzumachen.“
Nun kam er zum Höhepunkt seiner Klageschrift. „In der Elisenstraße, zwischen Holbein- und Dürerstraße liegt Asphalt; das ist nun der Tummel-, Spiel- und Lernplatz für Rollschuhläufer sämtlicher Kinder der Umgebung, sieben Tage lang in jeder Woche bis spät in die Nacht!“
Zusammenleben ist nicht einfach
Darauf machte eine Leserin in den Dresdner Nachrichten ein paar Wochen früher als die Veröffentlichung des Leserbriefes unseres Herrn David aus der Elisenstraße aufmerksam. Als sie mit ihrer Familie in eine neue Mietwohnung zog, wurde sie erst einmal misstrauisch beäugt. Anfangs hatten sie viel mit dem Einrichten und weniger mit den Empfindlichkeiten der Nachbarn zu tun. Doch diese begutachteten jeden Schritt der Neuen. Wann sie kommen und gehen. Welche Gardinen an den Fenstern hängen. Mit welchen Möbeln sie einziehen. Wie sie gekleidet sind. Und wie sich die Rotzbengels von Kindern benehmen. In der neuen Wohnung wurde vorgerichtet, gehämmert und Möbel verrückt. Und abends halb Neun wollten sie das letzte Loch schlagen für ein Bild. Und mitten im Hämmern schellte es an der Wohnungstür.
Es war der Hauswirt. „Um Gottes Willen, was hämmern Sie noch so spät? Die Leute nebenan sind gewöhnt, um 8 Uhr abends Schlafen zu gehen. Der Nachbar hat sich beschwert.“ Die beiden Nachbarn „haben noch kein Wort miteinander gewechselt, haben sich noch gar nicht zu Gesicht bekommen und schon besteht eine gegenseitige Verstimmung.“
Andere Mieter klagten über die Rücksichtslosigkeiten ihrer Nachbarn. Da wurde doch schon um neun Uhr vormittags der Teppich im Hof ausgeklopft. Oder wenn die Gattin ihren Schönheitsschlaf braucht, trabten die Obermieter noch vor sieben in Schuhen und Stiefeln umher, weil es zur Arbeit und zur Schule ging. Dafür gäbe es doch Filzpariser für die Wohnung. Ja, so nannte man damals die Hausschuhe. Die Straßenschuhe könnte man ja im Treppenhaus anziehen, so die kritischen Mieter von unten. Und die dünnen Wände gaben stets hörbare Einblicke ins Familienleben. Egal, ob sich die Eltern stritten, die Kinder plärrten oder gerade Kindermachen angesagt war.
Und wie könnte man diese Probleme lösen?
Eine weitblickende, gutbetuchte Dame aus der Dürerstraße schlug den Lesern der Zeitung gleich sogenannte „10 Gebote für Mieter“ vor.
- Geht nicht ohne Not in der Wohnung in Stiefeln umher, nicht vor 8 Uhr morgens und nach 10 Uhr abends.
- Schließt Türen und Fenster möglichst geräuschlos.
- Hämmert nicht vor 8 Uhr morgens und nach 10 Uhr abends an den Wänden.
- Beschränkt das Teppichklopfen auf die Zeit zwischen 8 und 12 Uhr.
- Musiziert und übt ein Instrument nicht länger als 1 Stunde am Tag und schließt dabei die Fenster.
- Lasst bei offenem Fenster kein Grammophon spielen und keinen Papagei schreien.
- Rückt nicht die Stühle geräuschvoll über den Fußboden.
- Gewöhnt euren Hunden das häufige Bellen ab.
- Untersagt euren Kindern das laute Schreien beim Spielen.
- Lehrt euren Dienstboten überflüssigen Lärm bei der Arbeit zu machen.
Und wie reagierte das Hausblatt unseres Pensionärs Daniel David aus der Elisenstraße 23 auf seine Anfrage, ob nicht die Polizei wegen der Rollschuhläufer einschreiten könnte? Am 25. April 1910 las er verbissen die Antwort: „Sie könnte wohl, wird es aber kaum tun, da sie ja die Erlaubnis zum Rollschuhlaufen auf öffentlichen Straßen und Plätzen selbst erst erteilt hat.“
*Dieser Abschnitt der alten Elisenstraße ist heute ein Teil der Hans-Grundig-Straße. Der nördliche Abschnitt zwischen Gerokstraße und Florian-Geyer-Straße hat noch den alten Namen. Zwischen der Striesener und der Canalettostraße nennt sie sich Georg-Nerlich-Straße.