Sommersonnwende – Zum Ende eines Hochzeitsfestes

eingestellt am 22.06.2021 von Anja Hilgert (ZEILE), Headerbild: Zur Sommersonnwende schmückt sich die Erde selbst mit lauter kleinen Sonnen. Foto: Anja Hilgert

 

Die ersten vollen Sommertage, die der Juni als Mittsommermonat beschert, reihen sich aneinander als wollten sie die Sonne nun nie mehr losgeben. Mit voller Wucht sind wir hinein katapultiert, in sommerliche Temperaturen, Hitze und Fülle. Wusste man sich erst keinen Rat, in den späten Anzuchttöpfen die Samen zum Aufgehen zu bringen, ist jetzt kaum hinterherzukommen mit Wässern und Gießen. Auf einmal ist alles ins Kraut, in Wachstum und ein Meer von Blüten geschossen. Der Juni feiert sich als früher praller Sommermonat.

 

Glücksmonat Juni

In einer Geste von Überfluss verströmt sich gegenwärtig die Natur. Unsere Sinne gehen weit auf und lassen durch geöffnete Tore einströmen, was da ist.

Die letzten überstark sommerlichen Junitage sind auf Festtagsstimmung zugesteuert. Alles ist explosiv nach aussen gegangen, ist körperlich, irdisch, weltlich geworden.
Bis in die Blatt- und Fingerspitzen füllen sich sämtliche organische Strukturen mit dem Pulsschlag des Lebens. In den Zellen herrscht höchste Erregung. Alle Teilchen sind in Schwingung versetzt.
Es springt über im System, und die Natur sorgt für sinnliche Vielfalt und Vermehrung. Im Fuchsbau, im Froschteich, in der Herde der Pferde und im Vogelnest regt sich der Nachwuchs, um bald eigene Wege zu gehen. Jeder Winkel ist besetzt von Vitalität, überall regt sich’s, geschaukelt von Wonne, in spielerischer Freisetzung von Glück. 

 

Anhalten für einen Koste-Moment

Um im Taumel der Eindrücke die Schätze dieser Zeit für einen Koste-Moment zur Geltung zu bringen, lohnt sich ein Innehalten kurz vor dem Kulminationspunkt. Genuss ist bekanntlich im Moment vor seinem Vergehen am vollsten. 

Angekommen im höchsten Punkt, dem Überborden und Bersten, diesem Wendepunkt des Jahres, ist kein Halten mehr. Vom Gipfel erschallen Juchzer, Jauchzen, ein Rufen, ein Jodler, ein Lied der Erlösung, es tatsächlich geschafft, wohlbehalten alles bis zur Entfaltung gebracht zu haben. Die Mühen und alle Anstrengung haben sich gelohnt. Jetzt kann losgelassen werden. Es ist vollbracht. 

 

Gefüllte Blütenräder Foto: Anja Hilgert
Voller Strahlenkranz Foto: Anja Hilgert

 

 

 

 

 

 

 

 

Wir sind eingeladen zur Hoch-Zeit des Jahres: Natur und Kosmos feiern ihre Vereinigung, das Hochzeitsfest. Bäume tragen Festtagsgewand, Blumen und Sträucher breiten Blütenteppiche aus und Bienen und Hummeln taumeln emsig in Blütenstaub, die Höschen dick bepackt mit Pollen.

 

Sonnenstillstand und Licht

Es ist Sonnwende und damit der astronomisch längste Tag im Jahr. In der nördlichen Erdhälfte erreicht die Sonne über Mittag ihren allerhöchsten Stand. Als Sonnenstillstand bezeichnet man den zweimal jährlich vorkommenden Moment. In unseren Breiten wird im Juni der Gipfel des Jahreskreises erreicht. Im Polarkreis wird heute die Sonne gar nicht untergehen. Über Tag und Nacht strahlt allgegenwärtiges, nicht verlöschendes Licht. In manchen Regionen wird das lichte Himmelsereignis irdisch freudig mit Sonnwendfeuern beantwortet.

Menschen verwöhnen sich mit Urlaub, Gartenfesten und Badevergnügen. Hoch über ihren Köpfen zwischert, saust und pfeift es. Die Luft ist ins Sirren versetzt. Mauersegler und Schwalben leisten sich pfeilschnelle Manöver, während jäh und passgenau die Amsel rasant durchs Revier schießt. Sogar die Tauben, in gemütvoller leiblicher Fülle, steigen und schwingen sich auf in die Höhe, um gleitend, in kurzem, stoßweisem Genuss sich der Strömung hinzugeben. Das Himmelsblau wird in Wellenschlag versetzt. Falken stehen in einem Punkt in der Luft und ganz oben kreist majestätisch der Rote Milan.

 

Hochzeitsglück und Schleusen von Duft

Dem Festtag voraus haben die kraftvollen Kastanien ihre Kerzen getragen, in weiss und in rot, haben den grünen Saal der Natur ausgeleuchtet und in aller Pracht schon ein Strahlen entfacht. Im Juni scheint alles festlich gestimmt, gefüllt von Farben und Formen, damit die Natur Hochzeit feiern kann.

Ein Erlebnis besonderer Art sind die sonderbaren Schleusen von Duft, die sich im großen Gelände in manchen verdichteten Abschnitten ergeben und die dort wandeln, werden ganzkörperlich eingetaucht in Aroma.

Weißdorn und Holunder wetteifern im Verströmen von Süße, und wer im Juni an der Elbe entlang radelt, wird unweigerlich Zeug*in von duftenden Schwaden und Wolken, die an unnachahmlicher Wirkung kein Parfüm zu übertreffen vermag.

 

Mit Blüten überladene Bäume am Elbe-Radweg. Foto: Anja Hilgert

Den Sommer erschnuppern

Das Interessante am Riechen ist ja, dass man als Mensch nicht allzu lange wirklich riechen kann. Unser Geruchssinn ist allgemein hin eher schwach entwickelt, das Geruchsfeld sehr einschränkt. Der Reiz eines Duftes wird über nur kurze Nervenbahnen von der kleinen Geruchsschleimhaut in der Nase direkt weitergereicht ans Gehirn, wo das Zentrum zum Riechen auch nur ein dünner schmaler Gehirnlappen im Vorderhirn ist. Es steht also nicht sonderlich rühmlich mit dem Sinn für Geruch beim Menschen. Und doch wird der durch die jetzige Jahreszeit am meisten gefordert.

Es wird für uns schon schwierig, aus einer Schwade an Luft diverse Gerüche zu unterscheiden – während zB ein Hund das aufs Feinste beherrscht. Unseren Geruchssinn benutzen wir zu wenig als dass er trainiert wäre. Also ist nach einem Erschnuppern und fächelnden Lufttasten durch die Nase der Geruchssinn meist schnell befriedigt. Sobald fürs Gehirn geklärt ist, was es ist, das den Duft ausströmt, ist es mit dem Riechen auch schon vorbei. Es gibt keinen langanhaltenden Genuss beim Riechen, die Qualität beim Geruchssinn ist eine andere, spontane.

 

Verführerisch von oben Foto: Anja Hilgert

Duft, der den Atem beraubt

Duft ist von überwältigender Wirkung. Das Riechen geschieht gefühlt ganz ohne Grenze, in nahezu schwellenlosem Prozess. Die Atmung gibt den Duft direkt an den Blutkreislauf weiter. Weil wir atmen, können wir uns nicht ausschließen von dem, was wir riechen. Duft wirkt betörend und betäubend. Für einen Moment geht das Wachbewusstsein verloren – der Verstand setzt aus.

Was uns der Abschnitt des Elbe-Uferwegs im Juni beschert, ist überwältigend, nämlich verzaubernd: Im Durchgang unter bestimmten Arten von Bäumen, finden sich Menschen zwangsweise umhüllt von dem Hauch, den die Bäume absondern. Robinien sind es in dem Falle, die ihren akazienhonigsüßen Blütenduft verströmen und damit die Aufmerksamkeit bannen in eine andere Dimension von traumschwerer Wahrnehmung.

 

 

 

Genieße Sonnenstunden, wer kann

Mit dem nächsten kommenden Gewitter wird es die letzen Blüten vom Baum regnen und der Duft wird wie fortgewaschen sein aus der Luft. Als wäre nichts gewesen. Die Robinien haben das Ihrige gegeben, der Holunder gibt weiter noch sein Bestes. Nach dem großen Fest, das die Natur gerade feiert, werden die Bäume ihre Festtagskleidung ablegen.

Dann ziehen Qualitäten auf Augenhöhe, die uns unmittelbar im Herzen erreichen: Die Rose besticht mit einzigartigem Duft und Erdbeeren wecken den nächsten der Sinne, lassen das Wasser im Munde zusammenlaufen. Die Tage werden von heute an kürzer. Genieße die Sonnenstunden wer kann.