Menschen » Was dem Haus Halt gibt – der Eisenwarenladen um die Ecke

eingestellt am 18.06.2024 von Anja Hilgert (ZEILE), zuletzt geändert am 18.06.2024

Beitrag von Anja Hilgert, 2021

Schrauben und Dübel gibt es auf die Hand in diesem Laden um die Ecke. Auch wenn die Dichtung leckt oder der Fuchsschwanz im Keller Rost angesetzt hat – einer, bei dem für Ersatz gesorgt ist, in Qualität und Güte, ist der Johannstädter Eisenwarenladen.

Das Geschäft um die Ecke

Das Ladengeschäft ist unkompliziert zu erreichen und hat auf wenig Raum alles, was Hand und Herz an Werkzeug, Materialien und Kleinteilen begehrt. Viele sparen sich gern Zeit und Nerven und geben dem Weg zum lokalen Laden im Viertel den Vorrang gegenüber einer Fahrt in den Baumarkt. Besonders, da geduldige Beratung inklusive ist. Heimwerker*innen, Männer und Frauen der kleinen Projekte, Tüftlerinnen und Bastler, Selbstversorgerinnen und Stadtteilaktive reichen sich die Klinke. Der Laden liegt eben um die Ecke.

Schächtelchen voller “…, du weißt schon”

Über die Ladentheke wird Handwerkszeug aller Art gereicht, gute Beratung tut das Übrige, der Kassenbon rattert und zwischen allem Geschäftlichen hindurch ziehen sich Wortwechsel und interessante Gespräche. Im Eisenwarenladen der Johannstadt findet jede*r fast immer, was gerade gebraucht wird, deshalb sind Andrej und sein Ladengeschäft ein fester Begriff im Viertel. Was Schrauben und Dübel selbst im Verbund nicht vermögen, trägt die Person des Verkäufers maßgeblich bei.

Über das Handwerkliche hinaus kommt es schon mal auf die Göttliche Komödie zu sprechen, mal zu einer Empfehlung für die beste Übersetzung von Ariost. Verse zum Lesen, die zum Feierabend die Ausdauer prüfen und Genuss im Feinsinnigen bieten. Ja, Schrauben und Dübel, „ Der Laden gehört zur Johannstadt und die Johannstädter*innen kennen das, da bin ich verpflichtet“, sagt Andrej Klein und steht lächelnd vor einer Wand mit unzählbaren Schächtelchen voller …, du weißt schon.

 

Für jede Wand und jede Hand das Passende Bohrer Foto: Anja Hilgert

 

 

 

 

 

 

Eisenwaren und alles, was dem Haus Halt gibt

Eisenwaren sind genormte Waren: Von Werkzeugen bis zu Kleinstteilen, die manchmal sogar eine echte DIN-Norm erfüllen, nach der alle Teile einheitlich ausgerichtet und gefertigt sind, damit sie verbunden werden können und das Einzelne sicher zusammenpasst.

„Manche, die kommen und wissen schon alles ganz genau, aber manche wissen einfach noch gar nicht, was sie wirklich brauchen“, berichtet der Eisenwaren-Fachmann. „Dann muss ich erst einmal klären: Was für eine Wand hast Du überhaupt – ist es Beton, Ziegelwand oder Trockenbau – das sind verschiedene Bedingungen und dann braucht man entsprechende Dübel und zu den Dübeln entsprechende Schrauben. Bis das alles erst einmal geklärt ist, braucht es Zeit und du zeigst und du erklärst.“

Gelernte DDR-Bürger

„Ich bin gelernter DDR-Bürger – haben Sie das nie gehört?“, fragt er gewitzt. „Das heißt, jemand kann reparieren und ist ganz vielseitig, kann alles anpacken – das habe ich von vielen Kunden gehört aus dieser Altersgruppe. Viele Ältere kommen schon mit einer Skizze und den Maßen darauf. Viele jüngere Leute sagen bloß ‚Geben Sie mir eine Schraube!‘, – ‚Was für eine?‘ – ‚So und so, zeigen sie mir‘ und nach einigem Hin und Her stellt sich heraus, gebraucht wird eine M 4 x 20.“

Ein Ladengeschäft hat allerdings mehr als die eine Funktion, Ware umzusetzen: „Geduld und gutes Geschick mit den Menschen, das muss man wohl haben – die Leute wollen auch viel sprechen, oder? Ich habe das viel gelernt hier,“ sagt Andrej und schiebt die Lade der Kasse zu.

Anfang der 1990er wollte jeder eine eigene Bohrmaschine haben

Die blauen Lettern des alten Firmenschriftzugs direkt auf dem Sandstein über den beiden Schaufenstern geben den Anschein, das Geschäft im Hochparterre befände sich schon immer hier, seit den Gründerjahren. Der Laden ist voll integriert in die Häuserzeile der Hertelstraße und passt mit seinem herausragenden Ladenschild gut hinein in die alte Kulisse der Jahrhundertwendezeit.

Der Laden ist wie eingepasst in die Gründerzeitfassaden der Hertelstraße Foto: Anja Hilgert

 

 

 

 

 

 

Ganz so lange gebe es ihn noch nicht, erzählt Andrej: „Herr Reinicke, mein Vorgänger, hat 1988 angefangen. Vor ihm, vor 30-40 Jahren war hier ein Schuster – dann haben Reinickes den Laden übernommen, er mit seiner Frau. Damals ging das Geschäft von der Ladentüre weg nach hinten nur über die Hälfte der heutigen Größe, der andere Teil war Wohnung. 1996/97 wurde das Haus saniert und dem Ehepaar Reinicke vom Besitzer angeboten, den ganzen Laden zu übernehmen. Anfang/Mitte der 1990er wollte jede*r eine eigene Bohrmaschine haben. Das Geschäft lief sehr gut zu der Zeit.

Mit der Ordnung kann es immer nur besser sein

Vom Gehsteig der Hertelstraße aus nimmt man drei Stufen, drückt die Klinke der alten Türe nieder und gelangt – ohne Türglockenläuten – über die Schwelle ins andere Reich des Ladeninneren. Ein Laden um die Ecke wie dieser, ist eine Rarität und genießt den beinahe nostalgischen Charme eines klassischen Einzelhandelsgeschäftes.

Zum Mann vom Fach ist Andrej Klein durch jahrelange Erfahrung geworden. Handwerkliches Geschick und Können hat er mitgebracht. Damals hat ihm einer erzählt, dass die Reineckes aufhören wollen, kurz nachdem er gemeinsam mit seiner Frau nach Dresden gekommen war: „Ich bin als Spätaussiedler aus Kasachstan gekommen, aus einer Russlanddeutschen-Familie.“

Sie hatten einander im Studium in St. Petersburg kennengelernt und seine Frau arbeitete dort als Übersetzerin, bis sie sich entschlossen, gemeinsam nach Dresden zu gehen: „Wir sind 2000 nach Deutschland gekommen. Da haben wir anfangs auf der Gerokstraße gewohnt, später sind wir dann umgezogen. Ich habe natürlich viel selbst gemacht. Der Eisenwarenladen von Reineckes war eine Institution. Den kannte jede*r. Ich war selbst hier Kunde.“

Nachfolge angetreten

Das Ehepaar Reinicke war alt und hatte einen Zettel in den Laden ausgehangen: Wir suchen einen Nachfolger. Mit anderer Arbeit war es kompliziert, da fragte Andrej seinen Freund, ob sie zusammen anfangen wollten. Aus der Zeit stammt noch das Angebot auf dem Ladenschild: Serviceleistungen, für Reparaturdienste vor Ort, Küchen einbauen, Mischbatterien anschließen – das hat der Freund gemacht, bis er vor zehn Jahren die Preise nicht mehr halten konnte. Heute werden Serviceleistungen von den Leuten wieder nachgefragt. „Aber ich bin allein. Hier im Laden ist nie alles erledigt, da habe ich keine Zeit für Arbeiten außer Haus“, sagt Andrej und lacht: „Am Anfang hat uns Frau Reinicke gesagt – Ordnung ist das halbe Leben. Es muss alles systematisch sein, das stimmt, aber mit der Ordnung kann es immer nur besser sein.“

Welche Säge sägt am besten? Foto: Anja Hilgert

 

 

 

 

 

Sortimentspflege

Säge, Hammer, Bohrmaschine, Armaturen oder Spaten und Gartengerät – Werkzeuge jeglicher Größe, 1000 Dinge für Heim und Haushalt sind aufgereiht und ausgepreist fester Sortimentsbestand. Zusätzliche Dienste bestehen im Schleifen und im Schlüsseldienst sowie dem Verleih größerer Elektro-Werkzeuge. Die Bandbreite ist groß, die Produktpalette vielfältig, bei ausgewählter Marken-Qualität. Andrej legt wert darauf, dass es langlebig ist. So weit es in seinem Rahmen möglich ist, sagt er, denn wie lange er für sein Sortiment noch garantieren kann, das weiß er nicht. Das liegt auch nicht in seinen Händen. Das sind Dinge, die in einem größeren Rahmen stehen.

Alles oder nichts

Sein Vorgänger im Ladengeschäft konnte bei verschiedenen Produkten noch ganze Gebinde bestellen, z.B. Dichtungsschläuche oder Kleber. Soviel braucht Andrej in der Regel nicht. Bei seinen Lieferanten kann er die meisten Sachen einzeln bestellen. Auch wenn bei 10-20 Stück pro Packungseinheit der Einzelpreis niedriger wäre, für ihn lohnt sich die Menge nicht. Seine Priorität ist, die Lücke im Angebot zu schließen.

„Immer wieder höre ich die Meinung über meinen Laden: „Der hat alles!” In solchen Minuten denke ich, es ist ein Segen und ein Fluch, so ein breites Sortiment zu haben. Ich habe viele treue Kunden, die mein Geschäft schätzen und kaufkräftig unterstützen. Ich wünschte nur, dass von mir in Zukunft nicht zu viel erwartet wird.“

Schlüsselersatz im Handumdrehen Foto: Anja Hilgert

 

 

 

 

 

 

Tausende von Einzelteilen

In der Sortimentspflege steckt die meiste Arbeit. Wenn die Lieferkette eingespielt ist, geht es leichter: Werkzeuge, Befestigung, Haushaltshelfer, Schlösser, Sanitär, Kleinelektro, Leuchtmittel, Gartenbedarf, das ganze Repertoire, systematisch aufgeteilt auf einzelne Bestellkataloge, mit Listen und Nummern, aus einer Adresse, damit die Bestellung unaufwändig und glatt läuft: „Für den Handel brauche ich eine Firma, die mir einen Innendienst, Ansprechpartner, einen Katalog oder pdf-Datei bietet, mit Liefergarantie und der Möglichkeit zur Reklamation. Es muss nicht sein, dass ein Vertreter kommt einmal im Jahr, aber ich brauche einen Ansprechpartner, das ist heute das Problem“, sagt der Ladenbesitzer und führt aus:
„In der letzten Zeit geht es dem Einzelhandel immer schlechter. Die Zeiten ändern sich, der Umsatz verschiebt sich in den online-Handel. Besonders für kleine Händler ist es schwierig, parallel zum Ladengeschäft einen online-Vertriebskanal aufzubauen.“ Andrej arbeitet in kleinerem Rahmen, dafür stilvoll: „Im Internet gibt es viele Anbieter, die keine oder wenig Steuern zahlen, ein gutes Beispiel ist Amazon. Für mich zeigt sich, dass auf Dauer der Einzelhandel vor Ort wohl verschwindet. An der Stelle bin ich ein Realist und kein Optimist.“

 

Eine echte Fundgrube  Foto: Anja Hilgert

Kleinvieh braucht Humor und ein geduldiges Gemüt

Manche kommen tatsächlich in den Laden und kaufen nur Dübel, Schrauben, Dübel, Schrauben… „Ich verkaufe das natürlich, zwei Schrauben 32 Cent, 2 Haken 64 Cent – da reden wir länger und der Kassenbon kostet bald mehr als die Ware. Viele machen es so, dass sie einmal wegen ein paar Schrauben kommen und dann wiederkehren, dann auch mal eine Zange oder eine Gartenschere brauchen.

Andere bestellen alles, was mehr als 5€ kostet, gleich im Internet. Die Leute sagen: ‚Ja ja, Kleinvieh macht auch Mist – der macht Geschäfte mit dem Verkauf von Dübeln und Schrauben‘, und jemand befestigt sein Regal. Aber so ist es eben nicht – da parkt kein Lamborghini vor meiner Haustüre. Tatsächlich ist es anders herum: Nämlich Kleinvieh macht viel mehr Arbeit. Das kleine betreute Ding, das dann im Regal sich findet, das macht sehr viel Arbeit.“

Den Dingen nochmal ein Leben schenken

Kleinlich ist Andrej Klein überhaupt nicht, im Gegenteil: Einmal kam einer, der brachte eine alte Schere, die er auf dem Dachboden bei seinem Opa gefunden hatte, an die 100 Jahre alt. ‚Gutes Werkzeug wird vererbt‘, denkt Andrej, ‚Kinder und Enkelkinder freuen sich, wenn sie gutes Werkzeug bekommen‘. „Sauber gemacht und geschliffen, wird sie wieder funktionieren“, sagt er dem Kunden. Der lässt sie schleifen. Beim nächsten Mal bringt er die Schere wieder mit und ist stolz: „Ich kann damit jetzt einen Teppich schneiden!“ „So muss es sein“, bekräftigt Andrej, „den Dingen nochmal ein Leben zu schenken.“

999 mal Zufriedenheit

Die Schwierigkeiten als Einzelhändler sind anders gelagert und haben nicht erst letztes Jahr begonnen. Die Corona-Krise hat es verschärft. „Seit zwei, drei Jahren verliere ich kontinuierlich die Lieferanten. Früher gab es wesentlich mehr Lieferanten, die solche kleinen Läden beliefert haben wie meinen. Wenn die Umsätze zurückgehen, verschwinden die Lieferanten – mittlerweile sage ich, ‚Hauptsache, die beliefern mich‘.“

Dementsprechend wird es schwieriger, das bewährte Sortiment aufrecht zu erhalten. In den Bereichen Werkzeug, Befestigung und Schließtechnik habe ich noch genug gute Lieferanten, in anderen Bereichen wird es immer schwieriger, und das Sortiment wird unumgänglich kleiner. Ob es fürs Weitermachen reicht, werde ich sehen.“

Andrej ist zuversichtlich: „Ich habe gegenüber einem Kunden, der meckert, 999 zufriedene Kunden.“ Das Telefon klingelt: „Eisenwaren Johannstadt – Klein – guten Tag! ….Ich hoffe, dass wir nicht für immer zu haben, nein. Sie bestellen bei mir und dann können sie es abholen kommen. Ich trage das ein als Bestellung. Was brauchen Sie denn?…Ja, Batterien haben wir, am besten sie bringen die alte mit, dann gucken wir, da finden wir eine neue. Die Tür ist zu, sie müssen klingeln oder klopfen – ich bin da, dann mache ich auf.“

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