Menschen » Wurzeln und Späne – Tischlermeister Johannes Tiersch

eingestellt am 02.05.2020 von Philine Schlick, zuletzt geändert am 18.06.2024

Beitrag von Philine Schlick, 2020

Als Tischlermeister Johannes Tiersch vor zwölf Jahren mit seiner Familie aus Gera in die Johannstadt kam, traten zwei Dinge ein, die er eigentlich nicht wollte: Er zog mitten in die Stadt und er blieb selbstständig. Tiersch trat in die Fußstapfen des Intarsien-Möbelspezialisten Manfred Heinze, indem er dessen Werkstatt und Haus bezog. Für beide ein Glücksfall.

“Eigentlich wollte ich mich in den Werkstätten Hellerau bewerben”, erzählt Johannes Tiersch. Wir stehen in seiner Tischlerwerkstatt, einem in die Jahre gekommenen Flachbau direkt hinter dem Wohnhaus. Das Grundstück atmet Zeit ein und Geschichte aus. Es wird begrenzt vom SSV Turbine-Sportplatz, dem KGV “Jugendgarten” e.V., dem Käthe-Kollwitz-Ufer und der Fetscherstraße.

Aus demselben Holz

Deren Verkehrslärm scheint durch die Bäume, die die Einfahrt zum Grundstück Tierschs säumen, gedämpft zu werden. Überwucherte Steine, knirschender Kies und der nahezu betäubende ätherische Duft von Harz bestimmen den schmalen Weg von der Straße bis vor die Werkstatttür. Johannes Tiersch steht vor einem Kaminofen, der knackend Holzreste verspeist.

Vor zwölf Jahren beschloss der selbstständige Möbeltischlermeister gemeinsam mit seiner Familie einen Umzug. Es sollte in die Peripherie der Landeshauptstadt gehen, ein “Häuschen am Stadtrand”.  Tiersch wollte als Angestellter arbeiten. Wenn nicht in Hellerau, dann im Instrumentenbau – bei einer Orgelbaufirma zum Beispiel.

Blick auf das aus Holz gefertigte Firmenschild. Foto: Philine Schlick

Dann stieß sein Schwager auf das Gelände von Manfred Heinze. Der Altmeister hatte, nunmehr 80jährig, nach zehn Jahren erfolgloser Nachfolgersuche just beschlossen, den Kaufpreis zu halbieren und sein geschichtsträchtiges Haus mit Werkstatt an den nächstbesten Interessenten zu veräußern. “Dieses Angebot hatte mein Schwager mitbekommen”, sagt Johannes Tiersch lächelnd.

Der ehemalige Holzplatz ist ein Garten geworden. Foto: Philine Schlick

Dass nun nach einer Dekade aus dem Nichts ein Nachfolger kam, der “aus demselben Holze” geschnitzt war und obendrein noch gegenseitige Sympathie keimte, damit hätte Manfred Heinze nicht mehr gerechnet. Er konnte sein Lebenswerk in fachkundige Hände übergeben. Seine Maschinen laufen unter Möbeltischler Tiersch weiter, der auch die Geschichte des berühmten Intarsienmöbelmachers verwaltet.

Serien von Unikaten

In der Werkstatt hängen Fotografien der Arbeiten Heinzes. Barocke Tischchen mit geschwungenen Beinen und versteckten Schüben, geschmückt mit filigranen Blumenmustern aus Hartholz, eingelegt in die glänzend polierte Oberfläche von Kisten und Möbeln. “Heinze fertigte Kleinserien für wohlhabende Kunden an”, berichtet Tiersch und zeigt im Hinterraum das dafür unerlässliche Werkzeug: Die Dekupiersäge.

Ein kunstvoll gefertigter Sekretär Manfred Heinzes. Foto: Philine Schlick

Es handelt sich um eine mechanische Laubsäge, mit der die schmückenden Holzornamente angefertigt werden. Dafür werden Plättchen aus dünn geschnittenem, unterschiedlich farbigem Hartholz übereinander gelegt und im Stapel gesägt. Die “Muster” können unterschiedlich ineinander gepuzzelt werden. Durch diese Kombinationsmöglichkeiten entstehen Serien von Unikaten.

“In den 70er Jahren der DDR gab es einen großen Kundenstamm mit Geld und Geschmack”, sagt Tiersch. Es mangelte nur an edlem Material – doch zu dem hatte Manfred Heinze Zugang über “Künstler-Chargen” und konnte sowohl historische Möbel originalgetreu bauen. Einen Teil des Kundenstamms konnte Johannes Tiersch übernehmen. Er war und ist fasziniert von der Handwerkskunst Heinzes, die er mit viel Geschick weiterverfolgt.

Brötchenverdienen und Hobby

Er zeigt einen fuchsbraunen Sekretär und daneben einen walnussbraunen, runden Tisch mit geometrischen Mustern. Letzteren hat Tiersch selbst gefertigt. Das gute Stück könnte auch in einem Schloss stehen – oder im Museum einer historischen Größe.

Die Intarsienarbeit ist aufwendig und theoretisch in der heutigen Zeit unbezahlbar. Deshalb ist sie für Johannes Tiersch neben dem Brötchenerwerb aus Kleinstaufträgen, Treppen- und Fensterbau, Reparaturen und Restaurierungen zum Hobby geworden.

Intarsien-Tisch von Johannes Tiersch. Foto: Philine Schlick

Einmal, erzählt er, hatten er und renommierter Intarsienkünstler einen Auftrag für eine Intarsien-Möbelserie von einem Möbelsammler aus Frankfurt bekommen. Über ein Vierteljahr bauten sie zu zweit eine Schrank-Serie, nach der sich August der Starke alle zehn Finger geleckt hätte. “Das passiert nur einmal im Leben”, ist sich Tiersch sicher.

Mit Manfred Heinze war er viele Jahre lang noch in gutem Kontakt. Dieser verbrachte seine letzten Lebensjahre im Seniorenheim auf der Arnoldstraße und kam seine ehemalige Wirkstätte bis zu seinem Tod im Jahr 2018 gemeinsam mit einem Pfleger regelmäßig besuchen.

Viele kleine Späne …

Johannes Tiersch arbeitet allein. Neben Aufträgen muss er die Arbeit an Werkstatt und Wohnhaus bewältigen. Ein großer und notwendiger Traum ist es, das Dach der Werkstatt zu erneuern. Wie überall hat auch ihm und seinem Geschäft der Corona-Virus einen Dämpfer versetzt. Der Meister hofft auf die Kontinuität von Aufträgen – und bessere Zeiten.

Das Werkstattgebäude von Johannes Tiersch. Foto: Philine Schlick

Über den Platz weht der Geruch von Flammen und Harz. Unter den Schuhsohlen knirscht leise der Kies und beim Abbiegen auf den Fußweg ist es, als durchschreite man eine unsichtbare Membran zu einer schnelleren, lauteren Epoche. Vom Brückenzubringer aus sieht man über eine dichte Hecke das rote Dach des Wohnhauses leuchten. Davor stehen alte Bäume und treiben Wurzeln. Dahinter, in der niedrigen Werkstatt, fallen Späne. Beides hat seine Zeit.

Tischlermeister Johannes Tiersch